1880, Briefe 1–73
73. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua,> 25 December 1880.
Heute, meine innig Geliebten, ist Weihnachten, folglich ist Neujahr vor der Thür — so muß denn doch ein Briefchen geschrieben werden, was auch die Herren Augen sagen! —
Gestern lag ich auf meinem Bette und dachte über das Leben nach und kam zum Schlusse, daß doch sehr Vieles unvollkommen ist, und man die Zähne oft übereinander beißen muß: daher solle man sich etwas Gutes sagen und thun, so oft es angeht, der Eine dem Anderen, damit doch etwas bei dem ganzen Leben herauskomme! (dabei fiel mir ein, daß ich die Tante Cäcilie niemals besucht habe, ebenfalls daß ich Euch den vorigen Herbst verdorben habe, durch meine Ungeduld und mürrisches Wesen) Und plötzlich merkte ich, daß es fünf Uhr sei und also die Stunde, wo bei Euch und allenthalben Bescheerung ist. —
In der Stadt war es etwas regnerisch, aber milde, wie ich mir nie einen 24. Dezember bisher vorgestellt habe. Ich bin doch sehr damit zufrieden, im Süden und am Meere sein zu können — mein Kopf hat ganz gewiß eine Wohlthat davon. Sonst geht es immer noch drunter und drüber, hin und her; ich will immer durch strenge Regelmäßigkeit und Gleichheit für einen wie den anderen Tag es zwingen — aber meine Natur scheint gerade das Umgekehrte zu wollen: dasselbe was ihr gestern gut that, thut es heute nicht, es bedarf einer lächerlichen Aufsicht, und doch ist alle Augenblicke etwas versehen und wieder mit Mühe und Noth gut zu machen. Ich bin sehr viel krank, aber unvergleichlich besserer Stimmung als andere Jahre zur gleichen Zeit. Das ist etwas! —
In Venedig (das zehnmal weniger für mich paßt als Genua) ist jetzt Gersdorff, er verkehrt viel mit Köselitz. Er malt, aber, nach Köselitzens Urtheil, mit viel Übertreibung, alle Köpfe zu heftig, roth, aufgeblähte Nüstern u.s.w. Kann mir’s recht gut denken! —
Gehen wir also friedlich in’s neue Jahr, meine Lieben! Ich weiß nicht, was aus ihm wird, glaube überhaupt nicht so recht mehr an wesentliche Veränderung meines Zustandes, er will eben abgewartet und ertragen sein, ohne daß man deshalb allen Lebensmuth verlieren müßte. Dagegen: bei Euch soll noch Gutes kommen, das nicht da ist, und alles Gute bleiben, das da ist: das wünsche ich in herzlicher Liebe!
Lebt wohl! Euer F.
NB. Ich war die letzte Woche desperat über Lärm im Hause und wollte zum vierten Male ausziehn, dachte mir eine Zornrede aus — und brachte es doch nur zu einer sehr verbindlichen Ansprache. Hinterher bilde ich mir gar noch ein, dieselbe habe die selbe Wirkung gethan, wie jene gethan haben würde. — So geht es.
Ich habe nicht für die guten Briefe dem Lama gedankt.