1880, Briefe 1–73
54. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Stresa, 20. Oktober 1880>
Lieber lieber wunderlicher Freund, ich bin der Bösewicht, der sich rechtfertigen müßte, aber nicht kann: es sei denn, daß Sie den tiefen erbärmlichen Verfall meiner Gesundheit gelten lassen. Ich habe seit jenem Augustbriefe (den ich immer noch bei mir trage — er wiegt schwer) die Feder nicht in Tinte getaucht: so ekelhaft war, so gedulderheischend ist noch mein Zustand. Wirklich, ich hatte bei nichts Freude, außer wenn ich Ihrer gedachte und Das was Sie mir jetzt melden, in Betreff von „Sch<erz>, L<ist> und R<ache>“ hat mich gestern ganz umgeworfen, und ich lief einige Stunden in glücklicher Trunkenheit herum. So müssen sich die guten Künstler selber helfen, und den beengenden Druck aller Art in den Wind schlagen! Denken Sie, auch ich dachte mitunter, es sei Ihnen wohler zu Muthe, wenn ich wieder ferne sei — aber trotzdem, es verlangt mich doch sehr nach Ihnen, denn ich liebe Sie so als ich Sie ehre und schonen möchte. — Im November nach Neapel. Stresa, lago maggiore, poste restante.
In Treue und Vertrauen