1880, Briefe 1–73
40. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Marienbad, 18. Juli 1880>
Mein lieber Freund, noch immer denke ich täglich einigemal an die angenehme Venediger Verwöhnung und an den noch angenehmeren Verwöhner und sage nur, daß man’s eben nicht lange so gut haben darf und daß es ganz recht ist, jetzt wieder Eremit zu sein und zehn Stunden des Tages als solcher spazieren zu gehen, fatale Wässerchen zu trinken und ihre Wirkung abzuwarten. Dabei grabe ich mit Eifer in meinem moralischen Bergwerke und komme mir dabei mitunter ganz unterirdisch vor — es scheint mir jetzt so als ob ich inzwischen den leitenden Gang und Ausweg gefunden hätte, indessen will so etwas hundertmal geglaubt und verworfen sein. Hin und wieder tönt ein Echo Chopinscher Musik in mir, und das haben Sie nun erreicht, daß ich dabei immer an Sie denke und mich in Sinnen über Möglichkeiten verliere. Mein Vertrauen ist sehr groß geworden, Sie sind viel fester gebaut als ich vermuthete, und abgesehn von dem schädlichen Einfluß, den gelegentl<ich> Hr. Nietzsche auf Sie geübt hat, sind Sie von allen Seiten gut bedingt. Ceterum censeo Berge und Wälder seien besser als Städte, und Paris besser als Wien. Darauf kommt aber nichts an.
Unterwegs kam ich mit einem höheren Geistlichen in Verkehr, welcher zu den ersten Förderern alter kathol<ischer> Musik zu gehören schien, er war jeder Detailfrage gewachsen. Ich fand ihn sehr eingenommen für Wagner’s Arbeit an Palestrina; er sagte, das dramatische Recitativ (in der Liturgie) sei der Keim der Kirchenmusik, und wollte darnach auch den Vortrag so dramatisch wie möglich. Regensburg sei jetzt die einzige Stadt auf Erden, wo man die alte Musik studiren, vor allem aber hören könne (namentlich in der Passionszeit)
Haben Sie von dem Brande von Mommsen’s Hause gelesen? Und daß seine Excerpten vernichtet sind, die mächtigsten Vorarbeiten, die viell<eicht> ein jetzt lebender Gelehrter gemacht hat? Er soll immer wieder in die Flamme hineingestürzt sein, und man mußte endlich gegen ihn, den mit Brandwunden bedeckten, Gewalt anwenden. Solche Unternehmungen wie die M<ommsen>’s müssen sehr selten sein, weil ein ungeheures Gedächtniß und ein entsprechender Scharfsinn in der Kritik und Ordnung eines solchen Materials selten zusammen kommen, vielmehr gegen einander zu arbeiten pflegen. — Als ich die Geschichte hörte, drehte sich mir das Herz im Leibe um, und noch jetzt leide ich physisch, wenn ich dran denke. Ist das Mitleid? Aber was geht mich M<ommsen> an? Ich bin ihm gar nicht gewogen. —
Hier in der allein im Walde gelegen<en> Eremitage, deren Eremit ich bin, ist seit gestern große Noth: ich weiß eigentlich nicht, was geschehen ist, aber der Schatten eines Verbrechens liegt auf dem Haus. Man hat etwas vergraben, Andre haben es entdeckt, man hörte schrecklich jammern, viele Gensdarmen waren da, Haussuchung fand statt, und nachts hörte ich im Zimmer neben mir jemand schwer gequält seufzen, so daß mich der Schlaf floh. Auch schien in der tiefsten Nacht wieder im Walde gegraben zu werden, aber es fand eine Überraschung statt, und es gab wieder Thränen und Geschrei. Ein Beamter sagte mir, es sei eine „Banknotengeschichte“ — ich bin nicht neugierig genug, um so viel zu wissen, wie viel wahrsch<einlich> alle Welt um mich weiß. Genug, die Waldeinsamkeit ist unheimlich.
Ich las eine Novelle von Mérimée, in der H. Beyle’s Charakter geschildert sein soll: „die etrurische Vase“; es wäre, falls dies wahr ist, jener St. Clair. Das Ganze ist spöttisch, vornehm und tief schwermüthig.
Zuletzt eine Reflexion: man hört auf, sich selber recht zu lieben, wenn man aufhört sich in der Liebe zu Andern zu üben: weshalb dies letztere (das Aufhören) sehr zu widerrathen ist. (Aus meiner Erfahrung.) Leben Sie wohl mein geliebter und sehr werthgehaltener Freund, gehe es Ihnen gut bei Tag und Nacht.
Treulich Ihr F.N.
In Ihrem Verhalten zum Deserteur würde Schopenhauer einen Beweis für die Unveränderlichkeit des Charakters sehen — und Unrecht dabei haben, wie fast immer.