1861, Briefe 202–291
203. An Gustav Krug und Wilhelm Pinder in Naumburg
<Pforta, 14. Januar 1861>
Liebe Freunde.
Nun sind die schönen Tage schon wieder vorüber, wo wir uns länger und häufiger sprechen konnten, vorüber die Zeiten, die in der Erwartung so hoffnungsvoll, in der Erinnerung so trostreich sind. Um nun sowohl meinem gegebnen Versprechen zu genügen, als auch um wieder einmal mich gemüthlich mit euch wenn auch nicht persönlich so doch im Geiste zu unterhalten, schicke ich mich jetzt an einige Worte an euch zu richten, weniger über das, was ich erlebt, genossen, gehört, gesehen, als über einige Ideen, deren wir ja schon in den jüngst verfloss’nen Stunden so viel gegenseitig austauschten. Denn was sollte ich von meinem jetzigen Leben berichten? Daß wir viel zu thun haben? Daß die Arbeit noch durch Feriengedanken gestört wird? Daß die Zeit für Lieblingsbeschäftigungen gering, ach leider! zu gering ist? Das habt ihr ja alles schon selbst erfahren und erfahrt es noch. Weßhalb sollte ich da noch euren Mißmuth vergrößern? Fürwahr, es ist doch viel angenehmer aus dem tyrannischen Reich, des Zwangs, in die Gebiete des freien Willens zu flüchten. Ohne weitere Umschweife will ich deßhalb mich zu den Stoff wenden, der jetzt eure Aufmerksamkeit kurze Zeit fesseln möge. Und dieser Stoff betrifft die Umgestaltung des Oratorium. Wenn man bis jetzt immer geglaubt hat, das Oratorium nehme in der geistlichen Musik dieselbe Stelle ein, die die Oper in der weltlichen, so scheint mir dies unrichtig, ja eine Herabsetzung zu sein. An und für sich ist schon das Oratorium großartig einfacher, ja so muß es als erhebende und zwar streng religiös erhebende Musik sein. So verschmäht das Oratorium alle andern Mittel, deren sich die Oper zur Wirkung bedient; es kann von niemand für etwas Begleitendes wie die Opernmusik doch für die Menge noch ist, gehalten werden. Kein andrer Sinn wird hier erregt außer dem Gehör. Auch ist der Stoff unendlich einfacher und erhabener, ja großenteils ist er bekannt und allen, auch dem Ungebildeten ohne Mühe verständlich. Deßhalb, glaube ich, steht das Oratorium in seiner Musikgattung höher, als die Oper, indem es also in den Mitteln einfacher, in den Wirkungen unmittelbarer ist und seiner Verbreitung nach wenigstens allgemeiner sein sollte. Wenn letzteres nicht so ist, so muß man die Ursachen nicht in der Musikgattung selbst, sondern theils in der Behandlung theils in dem geringen Ernst unsrer Zeit suchen. Was die Behandlung nun anbetrifft, so ist diese erstens zu compliziert und läßt noch den Mangel an Einheit empfinden. Wie kann ein Tonwerk, in eine Menge kleiner unzusammenhängende Theile zerspalten einen einigen und vorzüglich einen heiligen Eindruck machen! Deßhalb halte ich dafür, daß das Ganze nur in wenige aber größere Theile zerfallen, die sich dem Gang der Ereignisse anschließen und einen durchgängig einigen Charakter tragen. Zweitens liegt ein Nachtheil in der viel zu künstlichen, altvaterischen Behandlungsweise, die mehr in die Studirstube paßt, als in unsre Kirchen und Säle und die dem Ungebildeten in der Musik das Verständniß erschwert, ja unmöglich macht. Nun ist zwar richtig: Ein solches Werk kann und soll nicht bei einmaliger Anhörung durchdacht und auserkannt, sondern empfunden werden. Und daß eine Fuge auch von Ungebildeten empfunden werden kann, wird Niemand leugnen, besonders wenn sie knapp und kräftig ist und nicht durch unzählige Takte, mißlautend und langweilig durchgeführt wird. Der Hauptgrund aber, daß das Oratorium zu wenig populär, ist wohl darin zu suchen, daß die Musik oft zu unheilig mit Weltlichen gemischt ist. Und das ist das Haupterforderniß, daß sie in allen Theilen das Heilige, Göttliche auf der Stirn trägt. Also muß ein jedes Oratorium diesen drei Forderungen genügen, nämlich überall einen einigen zusammenhängenden Charakter zeigen, dann tief zu Gemüth dringen und endlich stets streng religiös und erhebend sein. Dazu tritt nun noch ein Erforderniß, das aber wirklich nothwendig und unumgänglich ist. Ich meine nämlich die Ausstoßung des Recitativ und einen entsprechenden Ersatz. Es läßt sich nun einmal eine rein unpoetische Erzählung schlechterdings nicht absingen, ohne einen störenden und trennenden Eindruck hervorzubringen. Als entsprechender Ersatz läßt sich auch so eigentlich kein andres Musikstück erdenken. “Wenn die Erzählung aber unumgänglich nothwendig ist, so müßten nach meiner Meinung die Worte zu der begleitenden Musik gesprochen werden. So träte dann ein neues Element nämlich das melodramatische zu dem Oratorium. Sonst muß aber so viel nur irgend möglich ist alles Unsingbare vermieden werden und lieber die etwa fehlenden Zwischenglieder, die sich bei bekannten Erzählungen der Zuhörer so leicht ergänzen kann, durch musikalische Zwischensätze von ähnlichen Charakter als die Erzählung ausgefüllt werden. —
Da ich hoffe, in den nächsten Briefen meine weitern Gedanken darüber gegen euch auszusprechen, und mich meine Zeit drängt, muß ich jetzt wohl schließen. Sind denn die Noten angekommen? Ich bin sehr gespannt darauf. Nächstens werden wir ja uns auch gegenseitig unsre Januarsendungen schicken, von Wilhelm empfange ich vielleicht auch noch eine verspätete Dezemberlieferung. Schreibt mir doch recht bald einmal: ich sehne mich so nach einem Brief, da ich so abgeschlossen und getrennt von euch bin. Sonst wünsche ich, daß es euch immer recht wohl geht und ihr auch mitunter an euren Freund in Pforta denkt.
Semper nostra mane<t amicitia!>
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