1860, Briefe 124–201
129. An Wilhelm Pinder in Naumburg
(Pforta, Mitte Februar 1860)
Lieber Wilhelm!
Unser Leben in Pforta ist weiter nichts als ein beständiges Erinnern und Hoffen. Während nun das erstere mitunter auch recht traurige Vergleiche mit frühern Zeiten zuläßt, so stärkt und tröstet das zweite wieder mit dem süßen Balsam der Erwartung, und ueberhebt uns aller Gedanken an die kalte, langweilige Gegenwart. Jetzt liegen die goldnen Weihnachtstage hinter uns, schon von dem leisen Duft der Ferne überzogen, aber desto heller ergrünen vor uns die freudenreichen Fastnachtstage; und über diesen erheben sich noch, wie über die nächsten Hügel noch weithin Berge ragen, von lieblicher Bläue umhüllt, die heiligen Osterwochen. Ja, das Hoffen ist unser Himmelreich — die Seele sucht so gern einen Punkt, wo sie Erquikung hofft, wo eine Goldader die trägen Gesteine durchbricht.
Weißt Du schon, wo ich in den nächsten Ferien wahrscheinlich hinreißen werde? Nach meinen lieben Plauen, das mir wirklich einige der lieblichsten Jugenderinnerungen zurückruft. So gedenke ich noch einer reizenden Wiese, die rings von grünen Hügeln eingefasst, von zahlreichen Quellen durchwässert mir einst das Erwachen der Natur enthüllte. Teiche mit Goldfischen, Schmetterlinge, Lerchen, Veilchen und Vergißmeinnicht, Heerden mit lieblichen Geläut — das erinnert mich immer an das so einfach natürliche Lied:
1. Der Frühling ist kommen
So bald, so bald,
Und streut seine Wonne
Auf Flur und Wald.
2. Und Liebe und Leben
Und Freude und Glück
Das kehrt mit dem nahenden
Lenze zurück.
3. Die Wolken so duftig
So rein wie ein See —
O könnte ich sterben
Vor Lust und Weh!
Und von Plauen aus werde ich dann mein düsteres, wildes Fichtelgebirge (besuchen), das auf mich einen gleichen Eindruck macht, wie auf jene Italiäner, die in ihm ungeheure Goldschätze verborgen glaubten. Es sollen dort noch viele wunderschöne Volkslieder existiren, die noch nicht gesammelt sind. Vielleicht habe ich das Glück, einige dieser Schätze zu heben und das wäre mir doch die schönste Belohnung. —
Kommst du denn noch nächsten Montag und Dienstag heraus? Um vier Uhr Nachmittags beginnt die Vorstellung. Wir würden doch dann wieder uns darüber sprechen können. Sage es doch auch Gustav. Vielleicht begleitet er dich heraus. —
Vorigen Sonntag war wieder Conzert. Wir sangen unter andern auch die Chöre aus Oedipus in Kolonos von Mendelssohn die wirklich wunderschön sind. Mehere größere Theile aus Don Juan kamen auch zur Ausführung. Im Damenchor singen wir jetzt das Finale aus Lorelei von Mendelsohn.
Nun leb recht wohl, lieber Wilhelm grüße meine Bekannten viele mal von mir und behalte in stetem Andenken
Deinen dich innig
Liebenden Freund
FWNietzsche
Semper nostra manet amicitia!