1870, Briefe 55–117
72. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Basel Sonnabend. <9. April 1870>
Verehrtester Herr Geheimrath,
seit Ihrem letzten Briefe lebe ich in steter Unruhe und gönne mir keine Musse mehr. Vernehmen Sie, in welcher Constellation ich lebe. Das Pädagogiumsprogramm ist gestern glücklich fertig geworden und ich bin sofort zur neuen Arbeit übergegangen. Aber auf wie lange! Denken Sie dass nächste Woche meine Angehörigen kommen und dass wir zusammen an den Genfersee reisen. Bis dahin giebt es noch die Nöthe der Examina und Versetzungscommissionen. Mit andern Worten: ich weiss gar nicht mehr, wie fertig werden und wenn Sie mir zurufen „periculum in mora!“ so muss ich zurückrufen „mora in periculo“ was hier einmal ausnahmsweise soviel bedeuten soll „meine Erholungszeit geht zum Teufel!“ Denn Sie kennen das Loos von Arbeiten, die man mit in die Pensionswirthschaften in schönen Gegenden nimmt. Gesetzt sie werden fertig — so ärgert man sich hinterdrein, sowohl die Arbeit als die Ferien verpfuscht zu haben.
Schliesslich gebietet doch, soviel ich sehe, nichts anders diese grausame Eile als Freund Jungmann’s Situation. Hören Sie nun meinen Einfall. Geben Sie seine Arbeit sofort zu Teubner in Druck und lassen Sie gefälligst Teubner sagen, er möge die Rechnung später an mich gelangen lassen. Ich mache mir dies Vergnügen — mit Vergnügen. Nur darf Fr. Jungmann gar nichts davon erfahren; und mein Name muss gar nicht genannt werden. Vielleicht darf ich Sie um eine wohlgemeinte Lüge ersuchen und verspreche meinerseits, die Last dieser Sünde tragen zu wollen.
Ich sehe nämlich nicht ein, warum Jungmanns Dissertation sofort in das erste Heft der Meletemata kommen müsste.
Wenn nun dieser Grund zur höchsten Eile wegfällt, so bleiben gewiss noch, wie ich gar nicht unterschätze, auch noch andre Gründe, die Meletemata möglichst bald von Stapel laufen zu lassen. Ist es Ihnen denn zu spät, wenn ich das Manuscript druckfertig in der zweiten Hälfte des Mai sende? Nämlich es liegt mir etwas an dieser Arbeit und ich möchte sie nicht in zu grosser Bedrängtheit nieder schreiben: ich habe für den ganzen Stoff ein stilles tendre, wie Sie (und ich) für Freiburg.
Die Jungmann-frage betrachte ich als beantwortet.
Heute hat man mich auch zum Ordinarius gemacht.
Ihrer Frau Gemahlin sagen Sie doch, dass sie mir ja nicht böse sein soll. Man habe mitunter, ja gewöhnlich zum Besten keine Zeit, eben weil es das Beste ist.
Eiligst
Ihr getreuer
Friedr Nietzsche