1870, Briefe 55–117
112. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Montag Vormittag, Basel. <12. Dezember 1870>
Liebe Mutter und Schwester
schönsten Dank für Eure angenehmen Briefe. Ich war als ich sie empfing, froh, noch einen Tag mit Briefschreiben gewartet zu haben; sonst wäre wieder eine Kreuzung entstanden. Auch bekam ich in Betreff der wesentlichen Frage (nämlich in Betreff Weihnachtens) soviel Aufschlüsse in Euren Briefen als ich brauche. Ich erinnre nur, daß man in diesem Jahre sehr viel Zeit bei allen Sendungen braucht. Darum werde ich mich beeilen, das was ich etwa zu schicken haben sollte, Euch bald zu schicken. An Gersdorff habe ich heute geschrieben, in der Voraussetzung, daß er den Brief ungefähr um Weihnachten erhalten wird, (falls er lebt!) Ich verlebe die Ferien in Tribschen, wo man es gar nicht verstehen würde, wenn ich fehlte. Auch werden dort schöne Musikvorbereitungen gemacht. Wagner hat eine Tribschener Symphonie componirt zur Geburtstagsfeier seiner Frau (am ersten Feiertage). Von Wagner ist jetzt seine Schrift über Beethoven erschienen. Ich habe sie Gersdorff zugesandt (als Geburtstagsgeschenk, auch für den ersten Feiertag) Mit Weihnachtsgeschenken bin ich in Verlegenheit. W. will ich eine geschriebene Abhandlung schenken (Du kennst sie zum Theil, liebe Lisbeth, sie wurde im Maderanerthal geschrieben) Aber für Frau W. habe ich gar nichts. Habt Ihr einen Einfall, so schreibt mir auf das Schnellste!
Diese Woche haben wir die Beethovenfeier gehabt. In der letzten Sitzung des akademischen Senats hat man Freund Heusler zum Rector der Universität, mich zum Sekretär gemacht. Neue Beschwerden! Der junge Vischer legt seine Bibliothekarstellung nieder und Sieber wird wahrscheinlich Bibliothekar. Frau Bischoff hat mich zu Weihnachten eingeladen, aber nachdem ich bereits mich nach Tribschen versprochen hatte. Sonst mehrfache Einladungen, bei Vischers, Hoffmann, Gerlach, Bernoulli usw.
Mit der Gesundheit geht es besser. Aber ich muß mich mit dem Hals sehr vorsehen und bin noch mehrere male von Hoffmann gepinselt worden. Auch trage ich einen Respirator und schätze diese Erfindung sehr.
Ich esse immer noch zu Hause. Mit Hartmann und Schwendener zusammen zu essen hat sich nicht gemacht — an mir hat’s nicht gelegen.
Es giebt viel zu thun: 6 Stunden Pädagogium, 8 Universität. Dazu die Sitzungen der Regenz, Fakultät, Bibliothekscommission und Pädagogiumsconferenz!
Für den jetzigen deutschen Eroberungskrieg nehmen meine Sympathien allmählich ab. Die Zukunft unsrer deutschen Cultur scheint mir mehr als je gefährdet.
Mit den herzlichsten Grüßen Euer
Fritz.
NB. Ich reise am Freitag vor dem Feste nach Tribschen ab.
— Unser Philosoph Teichmüller hat einen Ruf nach Dorpat; wenn Wenkel eine wissenschaftliche philosoph. Abhandlung geschrieben hätte, so könnte man ihn zum Vorschlag bringen.