1870, Briefe 55–117
108. An Richard Wagner in Tribschen
Basel 10. Nov. am Luthertage. <1870>
Verehrtester Meister,
in dem ersten Anstürme des neuen Semesters, der diesmal, nach meiner langen Abwesenheit, besonders heftig ist, konnte mir nichts Erquicklicheres geschehen als die Übersendung Ihres „Beethoven“. Wie viel mir daran liegen musste, Ihre Philosophie der Musik — und das heisst doch wohl: die Philosophie der Musik kennen zu lernen, könnte ich Ihnen besonders an einem Aufsatze deutlich machen, den ich für mich in diesem Sommer schrieb, betitelt „die dionysische Weltanschauung“. In der That habe ich durch dies Vorstudium erreicht, dass ich die Notwendigkeit Ihrer Beweisführung vollständig und mit tiefstem Genüsse einsehe, so entlegen der Gedankenkreis, so überraschend und in Staunen versetzend alles und namentlich die Ausführung über Beethovens eigentliche That ist. Doch fürchte ich, dass Sie den Aesthetikern dieser Tage als ein Nachtwandler erscheinen werden, dem zu folgen nicht räthlich, ja gefährlich, vor allem unmöglich gelten muss. Selbst die Kenner Schopenhauerischer Philosophie werden der grössten Zahl nach ausser Stande sein, den tiefen Einklang zwischen Ihren Gedanken und denen ihres Meisters sich in Begriffe und Gefühle zu übersetzen. Und so ist Ihre Schrift, wie es Aristoteles von seinen esoterischen Schriften sagt „zugleich herausgegeben und nicht herausgegeben.“ Ich möchte glauben, dass Ihnen dem Denker zu folgen in diesem Falle nur für den möglich ist, dem der „Tristan“ vornehmlich sich entsiegelt hat.
Deshalb betrachte ich die wirkliche Erkenntniss Ihrer Tonphilosophie als ein kostbares Ordens-besitzthum, das einstweilen nur sehr Wenigen zu Gute kommt. —
In dem Manuscript sind gelegentlich einige doppelt zu setzenden Buchstaben nur einfach geschrieben zb. in „appellieren, Apperception, supplieren“, was für den Setzer zu bemerken wäre. —
[+ + +]
Ihr dankbarer und
getreuer
Friedrich Nietzsche