1870, Briefe 55–117
61. An Paul Deussen in Minden
Basel Mittwoch im Febr. 1870.
Mein lieber Freund,
ich habe ganz vergessen, auf Deinen letzten Brief zu antworten: um so mehr hat er mich beschäftigt und jedenfalls war die Absicht, Dir die schönsten und besten Dinge zu schreiben, öfters bei mir sehr stark vorhanden. Denn jetzt bist Du einer der Unsrigen geworden, ja ich würde wagen, Dich im persönlichsten Sinne als den „Meinen“ zu bezeichnen, wenn nicht jenes von Dir angedeutete „Gebilde“ (aus Himmels Höhen oder Elberfelds Tiefen?) Einspruch erhoben hätte — oder erheben würde. Denn noch weiß ich nichts Genaueres: doch hoffe ich eins ganz bestimmt, daß ich bald über jenes noch ganz neutrale Wesen „das Gebilde“, so ins Klare gesetzt werde, wie es für Dich ein Genuß sein muß. Denn irgend jemandem wirst Du doch wohl Dich etwas ausschütten wollen: und ich bin in der Übung, erotische Briefe (von verliebten, sich aussprechen wollenden Freunden nämlich) zu empfangen. Daß hier die Philosophie nichts mitzureden hat, billige ich vollkommen: um so mehr aber die wahre Theilnahme der Freunde und die eigne Klugheit.
Inzwischen ist mir eingefallen, daß ich neulich doch wohl schon an Dich geschrieben habe: wie dem nun sei, ich erinnere mich nicht, mit Dir schon über „das Gebilde“ gesprochen zu haben.
Es ist traurig, aber für die unsäglich dürftige deutsche Geselligkeit charakteristisch, daß Du Vergnügen am Umgange mit Schauspielern hast. Mir ist es auch so gegangen. Der Heiligenschein der freien Kunst fällt auch auf ihre unwürdigsten Diener. Im Übrigen idealisiren wir diese Schicht der Gesellschaft: und mitunter redet auch der kleine Dämon mit, dem Sophokles sich mit Wonne entflohen fühlte. Im Allgemeinen kann der ernstere Mensch sicher sein, in diesen Kreisen ausgenützt und ausgelacht zu werden. Doch merkt man dies sehr spät, und deshalb ist es ein hübscher Zeitvertreib. Mir ist dies Wesen augenblicklich fatal.
Wie erträgst Du die Einsamkeit? — Das Leben hat mit der Philosophie ganz und gar nichts zu thun: aber man wird wahrscheinlich die Philosophie wählen und Heben, die uns unsre Natur am meisten erklärt. Eine Umwandelung des Wesens durch Erkenntniß ist der gemeine Irrthum des Rationalismus, mit Sokrates an der Spitze.
Leb wohl lieber Freund und schreibe Dich einmal aus. Warum machst Du immer so schöne Perioden und Worte? Wir verstehen uns besser ohne jenen umhüllenden und verhüllenden Mantel der Rhetorik.
Der von Dir empfohlene Herr Reinhard ist ein angenehmer und verständiger Mensch, bis jetzt noch Theolog. Man sagt mir, daß er Kant liest, ja er fragte mich, ob er Schopenhauer lesen sollte. Doch habe ich ihm zunächst abgerathen. Ich bin vorsichtig.
In alter Treue und
Freundschaft
Dein
FN.