1870, Briefe 55–117
101. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Naumburg 21 Sept. 70.
Verehrtester Herr Geheimrath,
wer weiß ob Sie meine letzten Briefe bekommen haben! Dies ist der stille Zweifel, der einen in solchen Zeiten bei allem Briefschreiben überschleicht. Darum will ich Ihnen noch einmal erzählen, daß ich von Erlangen aus im Dienste der freiwilligen Krankenpflege mich nach dem Kriegsschauplatze begeben habe — bis nach Ars sur Moselle (ganz in der Nähe von Metz) und daß ich von dort einen Verwundetentransport nach Carlsruhe gebracht habe. Die Anstrengungen der ganzen Unternehmung waren bedeutend; mit den Bildern jener Wochen und einem unaufhörlich sich mir vernehmbar machenden Klageton habe ich jetzt noch zu ringen. Ich verfiel bei meiner Rückkehr zugleich in zwei Krankheiten, gefährlicher Art, die ich beide in der Tag und Nacht unausgesetzten Pflege von Schwerverwundeten durch Ansteckung bekommen habe — Rachendiphtheritis und rothe Ruhr — eheu!
( nobile par fratrum! )
Doch sind beide Übel in der Hauptsache überwunden; vor einigen Tagen bin ich hier in Naumburg angekommen, um mich recht zu erholen und durch stille Arbeit wieder von den Erregungen jener Zeit zu heilen. Daß Einem immer, bei den besten Absichten für das Allgemeine, die lumpige Persönlichkeit mit all ihren Quengeleien und Schwächlichkeiten zwischen die Beine kommt! Nochmals eheu!
Von meinen Erlebnissen hoffe ich Ihnen nächstens persönlich erzählen zu können; auch bringe ich Ihnen ein Paar Chassepotkugeln von den Schlachtfeldern mit. Alle meine militärischen Leidenschaften sind wieder erwacht, und ich konnte sie gar nicht befriedigen! Wäre ich bei meiner Batterie gewesen, so hätte ich die Tage von Rezonville Sedan und — Laon praktisch und vielleicht auch passiv erlebt. Nun aber hat mir meine Schweizerische Neutralität die Hände gebunden. —
Ich habe gehört, daß Ihre verehrten Angehörigen wieder bei Ihnen angelangt sind. Habe ich recht gehört? Dann hoffe ich sie in nächster Woche zu sehn. Meine Schwester läßt sich bestens empfehlen. Ich freue mich darauf wieder etwas philologische Luft zu athmen; mehr aber als das: Ich freue mich nach Jahresfrist Sie wieder zu sehen. Es war für mich persönlich ein recht Wechselund mühevolles Jahr!
Wann aber wäre man je auf stolzeren Füßen gegangen als jetzt? Und welcher Deutsche, wenn er einen Deutschen wiedersieht, darf jetzt nicht nur weinen, sondern auch — wie zwei Augurn — lachen?
Und das wollen wir nächste Woche zusammen thun.
Auf Wiedersehn!
Ihr getreuer
Friedrich Nietzsche.