1865, Briefe 459–489
486. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Leipzig,> Sonntag d. 5 Nov. 1865.
Meine liebe Mama und Lisbeth,
allerdings hatte ich auf die Kiste gewartet, und ich freute mich recht, daß sie endlich gestern Sonnabend eintraf. Schließlich aber that es nichts, daß sie etwas spät kam. Es dürfte ja immer Fälle geben, wo das genaue und präzise Abschicken einer Kiste wesentlicher und notwendiger wäre als eben bei der vorliegenden Sendung. Ich hatte noch genug Wäsche und vermißte blos Gabel und Messer und Schüssel recht, aber letztere vermisse ich ja noch immer.
Schließlich ist dies alles ganz gleichgültig. Es ist mir aber lieb von Euch Gutes über meinen Freund zu hören. Wir haben uns den Sonntag recht wohl in Naumburg gefühlt und danken für Eure höchst freundliche Aufnahme.
Also jetzt würden wir uns auf eine längere Zeit nicht mehr sehen? Ich hoffe doch, daß Ihr bei Eurer Durchreise durch Leipzig mich besucht. Ich bin auf meiner Stube bis ¾11 Vormittags anzutreffen. Solltet Ihr Mittags ankommen und vielleicht mit der 5 Uhr-Post weiter fahren wollen, so schickt mir doch eine Karte durch einen Dienstmann in die „gute Quelle“ auf dem Brühl.
Vielleicht macht es sich doch, daß Ihr zur Aufführung der herrlichen Johannes-Passion von Bach herüber kommt: sie findet am Bußtage statt.
Wir sind wieder in das Gleis der gewöhnlichen Arbeiten, Gedanken, Plackereien, Erholungen gerathen; wie wichtig ist mir jetzt der Tag, und wie vieles entscheidet sich oder muß sich entscheiden in den engen Hirnkammern? Tragt Ihr es nur wirklich so leicht, dieses ganze widerspruchsvolle Dasein, wo nichts klar ist als daß es unklar ist? Mir ist es immer, als ob Ihr im Scherze darüber hinwegkämt. Oder täusche ich mich? Wie glücklich müßt Ihr sein, wenn ich richtig sehe.
Oder höre ich auch hierauf wieder Euren Witz: der Koffer ists, nur der Koffer ists, der ihn so verstimmt. Wie naiv! Unnachahmlich! Aber wie wenig verstünden wir uns!
„Thue Deine Pflicht!“ Gut, meine Verehrten, ich thue sie oder strebe darnach sie zu thun, aber wo endet sie? Woher weiß ich denn das alles, was mir zu erfüllen Pflicht ist? Und setzen wir den Fall, ich lebte nach der Pflicht zur Genüge, ist denn das Lastthier mehr als der Mensch, wenn es genauer als dieser das erfüllt, was man von ihm fordert? Hat man damit seiner Menschheit genug gethan, wenn man die Forderungen der Verhältnisse, in die hinein wir geboren sind, befriedigt? Wer heißt uns denn uns von den Verhältnissen bestimmen zu lassen?
Aber wenn wir dies nun nicht wollten, wenn wir uns entschlössen, nur auf uns zu achten und die Menschen zu zwingen uns wie wir nun sind anzuerkennen, was dann? Was wollen wir denn dann? Gilt es, ein möglichst erträgliches Dasein sich zu zimmern? Zwei Wege, meine Lieben: man bemüht sich und gewöhnt sich daran so beschränkt wie möglich zu sein und hat man dann seinen Geistesdocht so niedrig wie möglich geschraubt, so sucht man sich Reichthümer und lebt mit den Vergnügungen der Welt. Oder: man weiß daß das Leben elend ist, man weiß, daß wir die Sklaven des Lebens sind, je mehr wir es genießen wollen, also man entäußert sich der Güter des Lebens, man übt sich in der Enthaltsamkeit, man ist karg gegen sich und liebevoll gegen alle Anderen — deshalb weil wir mitleidig gegen die Genossen des Elends sind — kurz, man lebt nach den strengen Forderungen des ursprünglichen Christenthums, nicht des jetzigen, süßlichen, verschwommenen. Das Christentum läßt sich nicht „mitmachen“ so en passant oder weil es Mode ist.
Und ist denn nun das Leben erträglich? Ja wohl, weil seine Last immer geringer wird und uns keine Bande an dasselbe mehr fesseln. Es ist erträglich, weil es dann ohne Schmerz abgeworfen werden kann.
Lebt wohl, meine Lieben
Fritz.
Freund Mushacke empfiehlt sich Euch
Das Stipendium will ich nicht, meine Gründe kennt Ihr. Ich bekäme es auch nicht, da es nur für preußische Universitäten gültig ist. Macht Euch doch um solche Dinge keine Mühe. Komme ich nicht aus, so gebe ich Stunden.