1865, Briefe 459–489
461. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Bonn, am Sonnabend. <18. Februar 1865>
Meine liebe Mama und Lisbeth,
immer näher kommt nun die angenehme Zeit der Ferien; und ich muß gestehn, daß auch von Tag zu Tage meine Sehnsucht wächst, Euch endlich einmal wieder zu sehn. Ihr könnt doch nun nächstens die Vorbereitungen zu meiner Ankunft machen, denn nach der Mitte nächsten Monates werde ich kommen. Je unfreundlicher jetzt die Witterung ist, um so lieber denke ich an die schönen Ostertage, und billigerweise habe ich mich noch nie so auf die Ferien gefreut als es gegenwärtig der Fall ist. Wie wohlthuend wird mir das Leben in eurer freundlichen Mitte sein im Gegensatze zu meinem alles Familienlebens baren Dasein. Dazu kommt die Nähe so vieler bekannter und lieber Menschen, die Nähe der alten guten Pforte, an der wir Pförtner hier in einer lächerlichen Weise hängen.
Dieser ganze Passus wird Euch, wie ich vermuthe, mit einer stillen Wehmut erfüllen, ich muß diese aber leider vernichten, indem ich daran den unvermeidlichen leidigen Geldpunkt anknüpfe. Ich mache jetzt mitunter ganz verzweifelte Ansätze, um das Soll und Haben auszugleichen, und wie im Ministerium berechne ich mein Budget für dies Jahr und finde recht trostlose Resultate. Zu meinen großen finanziellen Coups gehört auch der Vorsatz, im neuen Semester auszuziehen, kein Klavier mehr zu miethen, alles um auf gut Deutsch Geld zu schinden. Man lernt in einem Semester recht viel, auch in diesen materiellen Beziehungen; schade, daß man diese Studien recht theuer bezahlen muß. Jetzt aber kommt der Schluß zu diesen schmerzhaft scherzhaften Auseinandersetzungen: ich ersuche Dich nämlich liebe Mama mir für nächste beide Monate das Geld zusammen zu schicken und zwar nicht unter 80 Thl. das Reisegeld mit eingerechnet. Ueberhaupt bin ich kein Freund der monatlichen Geldsendungen; es verleitet unvermeidlich zum Schuldenmachen, ich habe bis jetzt mit der Monatssendung immer nur die nothwendigsten Schulden des vergangnen Monates decken können, und fast nie baares Geld gehabt. Ueberhaupt ist kein Gedanke daran, daß ich mit weniger als 400 Thl von Bonn wegkomme, denn soviel hat mir der Vormund zu Anfang meines Universitätsleben versprochen. Wenn Du genau wüßtest, wie man hier lebt, so würdest Du das auch billigen. Es ist das Mindeste für diese Verhältnisse. —
So, nun habe ich mich darüber ausgesprochen, ob ich gleich weiß, daß es Euch keine Freude machen wird. Mir auch nicht. Warum kann ich das nicht alles mit dem Vormund abmachen, es verdirbt meine schönen Briefe. Uebrigens bitte ich Dich nochmals, mich nicht durch Nichterfüllung meines Wunsches in unglückliche Umstände zu stürzen, aus denen ich mich dann nur dadurch retten könnte und müßte, daß ich auf irgend eine Weise die gleiche Summe pumpte. —
Nun wollen wir unsre Stirnen wieder in freundliche Falten glätten und uns anmuthig unterhalten. Mein Stoff, Euch allerlei zu erzählen wächst natürlich von Tag zu Tag. Ich freue mich ungemein auf den Moment, wo ich mein altes Naumburg wiedersehe. Ich glaube, ich werde mich sehr wenig verändert haben. Ein klein wenig dicker bin ich geworden, wie das vorauszusetzen war. Es thut mir sehr leid, daß ich Gersdorff jetzt nicht sehen werde. Er geht nach Leipzig und will nicht in ein Corps einspringen. Könnte er nicht ein paar Tage in den Osterferien bei uns logieren? Wilhelm und Gustav laden mich auf das freundlichste ein, sie in Heidelberg zu besuchen. Sie haben mir endlich geschrieben. Ich bekomme sehr wenig Briefe. Das ist recht böse.
Meine Erlebnisse beschränken sich in der letzten Zeit auf Kunstgenüsse. So viel und so bedeutendes habe ich in kurzer Zeit gehört, daß ich es selbst kaum glauben mag. Innerhalb weniger Wochen besuchten die bedeutendsten Künstlerinnen Köln und Bonn. Dein Wunsch, liebe Lisbeth, daß ich die Patti hören möchte, ist erfüllt. Was kann ich Euch alles von dem prachtvollen Patticonzert erzählen. Die geniale Niemann-Seebach habe ich kürzlich in den Nibelungen von Fr. Hebbel als Kriemhild gesehn. Die allerliebste Friederike Gossmann Liebling des Bonner Publikums und unser aller insbesondre habe ich dreimal gesehn in allerliebsten Backfischrollen. Die Bürde Ney, die Du ja kennst, liebe Lisbeth, habe ich in den Hugenotten und im Fidelio gehört. Gar nicht zu reden von den schönen Conzerten, die der Bonner Gesangverein giebt.
Ich gelte hier in studentischen Kreisen etwas als musikalische Autorität und außerdem als sonderbarer Kauz, wie übrigens alle Pförtner, die der Franconia angehören. Ich bin durchaus nicht unbeliebt, ob ich gleich etwas moquant bin und für satyrisch gelte. Diese Selbstcharakteristik aus dem Urtheile andrer Leute wird Euch nicht uninteressant sein. Als eignes Urtheil kann ich hinzufügen, daß ich das erste nicht gelten lasse, daß ich oft nicht glücklich bin, zu viel Launen habe und gern ein wenig Quälgeist bin, nicht nur für mich selbst, sondern auch für andre.
Nun lebt recht wohl, schickt mir das Geld um alles in der Welt zur genauen Zeit, grüßt die lieben Verwandten, habt recht freundlichen Dank für Eure liebenswürdigen Briefe und behaltet mich lieb
trotz dieses Briefes.
Friedrich Wilhelm Nietzsche.
