1865, Briefe 459–489
472. An Wilhelm Pinder in Heidelberg
Bonn, am 6t. Juli 1865.
Lieber Wilhelm,
unser Briefwechsel hat eine Unterbrechung erlitten. Wir haben uns eine lange, fast jährige Zeit hindurch nicht gesehn und gesprochen. Deinen Geburtstag kann ich aber doch nicht lautlos vorüber gehen lassen. Zu sehr mahnt mich gerade heute die Erinnerung. Wie deutlich steht doch der 6t Juli aus verschiedenen Jahrgängen in meiner Erinnerung. Als ich vor einem Jahr an Dich schrieb, war ich noch von den Banden der Schule umklaftert. Ich schrieb gerade über Theognis. Ein ander Mal hatte ich intensive Leibschmerzen und konnte Dir nicht persönlich gratuliren. Immer aber fühlte ich mich um diese Zeit glücklich im Genuß der Natur, der Familie, der Ferien. Rechnen wir einige Jahre zurück, so existirten noch unsre wissenschaftlichen Synoden, am 25t. Juli feierten wir auf der Schönburg die Stiftung unsres Vereins. In den Hundstagen machten wir unsre gemeinsamen Irrfahrten. In denselben Zeiten sind wir einige Tage zusammen gewesen bei meinem Onkel in Gorenzen. Wo ich hinsehe, sind Punkte der angenehmsten Vergangenheit.
Es ist sicher, das Universitätsleben trennt; die Interessen ziehen nach verschiedenen Seiten auseinander. Wir haben ein jeder selbst eigne Erfahrungen gemacht und sind nicht mehr im Stande gewesen unsre beiderseitige Entwicklung zu überwachen. Es ist vorläufig auch keine Aussicht, daß wir wieder längere Zeit zusammen leben könnten. Nächste Semester gehe ich nach Leipzig, Du wirst wahrscheinlich nach Berlin übersiedeln.
Nach diesen sentimentalen Vorerinnerungen — es ist übrigens drückend heiß — bringe ich Dir meine herzlichsten Glückwünsche dar. Ich brauche nicht weiter zu wünschen, daß es Dir immer gut gehen möge. Denn so wie ich Dich kenne, wäre es schreiender Undank von allen Göttern wenn es Dir nicht immer auf das beste gienge. Ich kann also nur wünschen, daß Du derselbe bleiben magst als der Du in meiner Erinnerung stehst. In diesem Wunsch ist auch die Bitte um Deine fernere Freundschaft mit eingeschlossen. —
Was macht Dein juristisches Studium? Kürzlich schrieb mir einer, daß er die höchste Unlust daran empfinde, nämlich Gersdorff, den Du ja kennen gelernt hast. G. wird wahrscheinlich nach Leipzig gehn, um dort deutsche Literatur und Sprache zu treiben. Er beabsichtigt die akademische Carriere. Noch erfreulicher war mir seine Mittheilung, daß er sich im Corps (Saxonia) höchst unglücklich fühle; er betrachte es nur als eine Prüfung für den Charakter, hält sich sehr von den andern zurück und zürnt über deren Treiben und Richtungen. Er ist durch sein Einspringen in große Käm<pfe> gerathen und wird es nicht länger als ein halbes Jahr darin aushalten. Das ist alles höchst charakteristisch sowohl für Gersdorfif als das Corpsleben.
Was meine Frankonia betrifft, so haben wir wieder einige Entwicklungsstadien hinter uns. Wir Pförtner haben jetzt eine wissenschaftliche Richtung durchgebracht, ein Kneipabend ist ihr zum Opfer gefallen. Seit Ostern ist v. Gräfe unter uns, den Du vielleicht namentlich kennst. Neulich habe ich einen größeren Vortrag gehalten über Deutschlands politische Dichter. Unser Ziel ist: Bekämpfung aller Anachronismen in der Verbindung. So ist jeglicher Kneipcomment schon beseitigt.
Unendliches fällt mir ein, was ich Dir noch mündlich erzählen werde. Jetzt lebe wohl, grüße Gustav auf das freundlichste von mir und macht es irgendwie möglich, daß wir unsre Heimreise wenigstens zusammen verleben.
Dein Friedrich Wilhelm Nietzsche.