1865, Briefe 459–489
485. An Friederike Daechsel und Rosalie Nietzsche in Naumburg
<Leipzig, Ende Oktober — Anfang November 1865>
Meine lieben Tanten,
unsre Begegnung am vorigen Sonntage war so kurz, daß ich nicht einmal das aussprechen konnte, was doch am nächsten lag: nämlich meinen besten Dank für Eure lieben Geburtstagsgaben. Obschon ich diesen festlichen Tag nicht im Kreise von Verwandten zubrachte, so waren es doch sicherlich sehr liebe und ausgezeichnete Menschen, die ihn mit mir feierten. Und ich war ja sicher, daß auch Eure Gedanken, auch Eure Wünsche mir nahe waren. Es ist Euch bekannt, daß mit jedem 7ten Jahre der Mensch einen vollkommen neuen und andern Körper angezogen hat. Und deshalb ist das siebente, das vierzehnte und das einundzwanzigste so wichtig. Ich fange also jetzt an zum 4ten Male in einen neuen Leib einzugehn. Wie ist es nun mit unsrer Seele? Hat sich diese auch schon dreimal völlig geändert? Haben unsre Eigenschaften, unsre Fähigkeiten so wenig Stand, daß sie auch nach je 7 Jahren schwinden und neuen Platz machen? Nein, einem solchen Kreislaufe der Seele sind wir nicht unterworfen, wohl erweitert sie sich und gewinnt an Kraft, aber ihre Grundbestandtheile bleiben sich gleich, ewig gleich. Ist denn nicht unsre Liebe zu einander sich gleich geblieben, meine lieben Tanten?
Aber was wird mir in diesem 4ten Kreise von sieben Jahren alles geschehen? Alles muß sich darin entscheiden; ist er vorbei, so muß der Mensch fertig sein, das ganze Baugerüst muß untadelhaft dastehn; wir können dann bloß noch ausschmücken, aber nicht mehr umbauen.
Wie wichtig ist also das angetretne neue Jahr! Also, meine lieben Tanten, für Eure guten Wünsche meinen besten Dank, ebenso wie für die schönen Gaben, die Zeugen Eurer Liebe für mich. Lebt recht wohl!
Euer Fritz.