1865, Briefe 459–489
459. An Rosalie Nietzsche in Naumburg
Bonn, 11 Januar 1865.
Meine liebe Tante,
dieser Brief, der erste, den ich im neuen Jahre schreibe, soll Dir meine herzlichen Glückwünsche überbringen, die ich gar zu gern mündlich ausrichten möchte. Die Weihnachtsferien sind nun vorüber, und ich bin wieder darin im gewöhnlichen Gleise der Arbeit, ja ich kann sagen, ich freue mich, daß ich wieder darin bin und daß die Zeit, wo ich besonders Euch vermißte, überwunden ist. Zwar habt Ihr mir Eure Liebe, die auch in der Ferne mich begleitet, so schön in Wort und That ausgesprochen, und ich nehme heute auch Gelegenheit, meinen Dank und meine Freude Euch darzulegen; aber umso mehr wächst natürlich das Verlangen, mit Euch wieder einmal zusammen zu sein, und Gesehenes und Erlebtes in fröhlicher Unterhaltung auszutauschen. Sei überzeugt, meine liebe Tante, daß ich an Deinem Geburtstag Deiner viel gedenken werde, daß ich überhaupt oft an Dich denke, zumal jetzt, wo die schöne, täglich durchgespielte Manfredmusik mich so lebhaft an Deine Güte erinnert.
Heute sollst Du denn auch die Originaldepeschen über mein Leben seit Neujahr bekommen; denn der Mama und Lisbeth habe ich seitdem noch nicht geschrieben. Um mit dem zuletzt Erlebten anzufangen, so war ich gestern Abend zu Prof. Schaarschmidts eingeladen, und zwar zusammen mit allen Pförtnern, die mit in der Frankonia sind. Es war höchst lustig daselbst, Schaarschmidt ist ein sehr witziger, auch sarkastischer Gesellschafter, und unsre Unterhaltung berührte im Fluge so ziemlich alles, was es überhaupt giebt. Nach einem sehr feinen Abendessen blieben wir bei einer Pfirsichbowle noch bis 12 zusammen. Hierbei bemerke ich, daß ich seit dem neuen Jahre mich daran gewöhnt habe, um 6 Uhr morgens aufzustehn. Worüber Du Dich wundern wirst. Vor Weihnachten allerdings nie vor 8 Uhr. In den ersten Tagen des neuen Jahres war ich in dem benachharten Köln, und hatte das Glück, Karl Devrient als Wallenstein zu sehn. Ueberhaupt macht diese Stadt mit ihrem erhabnen Dom und den unzähligen Kirchen einen bedeutenden Eindruck. Der Rhein hat ungemein wenig Wasser und treibt viel Eis, an einigen Stellen hat es sich gelagert. Ich hoffe auf den Frühling und den Sommer. Des Winters Kraft scheint seit den letzten gewaltigen Stürmen mit tüchtigem Gewitter gebrochen. Zu Weihnachten und Neujahr haben wir eine sehr tüchtige Kälte und mäßig viel Schnee gehabt. Neujahr bekam ich außer von zu Hause noch Briefe von meinem ehemal. Untern Redtel und von der Räthin Redtel, natürlich voll von Dank. Von ihr und von Anna soll ich Mutter und Schwester herzlich grüßen. Zugleich fällt mir ein, daß auch Deussen mir Glückwünsche zu Deinem Geburtstag aufgetragen hat. Meine Zahnschmerzen sind seit den letzten Tagen fort, und ich befinde mich recht wohl, nur, daß mir die Kost nicht schmeckt. Ich freue mich sehr auf die Osterferien, und ich möchte gar zu gern über Plauen zurückreisen, damit ich mich dort einmal den Tanten vorstellen könnte.
Nun, ist das nicht alles im Depeschenstil, kurz und bündig, Wetter, Zahnschmerzen und Kost durcheinander, abgefaßt? Ja, ich muß fürchten, daß, wenn der Brief nicht gleich fortkommt, er Dich nicht mehr an Deinem Geburtstag trifft. Verlebe ihn recht vergnügt und grüße die liebe Tante Riekchen nochmals herzlich dankend von mir.
Lebe recht, recht wohl, meine liebe Tante und behalte lieb
Deinen
Friedrich Wilhelm Nietzsche.

Grüße Mama und Lisbeth recht vielmal von mir! Ich habe mich recht über ihre Neujahrsbriefe und Nachrichten gefreut. Aber von der lieben Elisabeth erwarte ich alltäglich einen etwas ausführlichen Brief.
Adieu!