1865, Briefe 459–489
473. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Bonn am 10t. Juli früh. <1865>
Meine liebe Lisbeth,
was ich vor wenig Tagen an W. Pinder schrieb, das ist auch für Deinen Geburtstag wahr: früher ein Tag des genußreichsten Zusammenlebens, gemeinsamer Heiterkeit und Freude, jetzt nur ein Tag der Erinnerung, der liebevollsten Erinnerung an jene schöne Vergangenheit.
Solche Stunden sind es, an denen Mädchen sentimental werden können, ich mich zum Componiren angeregt fühle und dabei in alten Blättern Papieren und Gedichten umherwühle.
Da fällt mir denn Dein liebenswürdiger Brief in die Hände, in dem zwei schöne Verse eines Mendelsohnschen Liedes stehn; ich weiß auch nichts besseres, als auf jene lieben Worte zu verweisen: „Wir sind dieselben doch geblieben“
Oder um doch etwas an Deinem Geburtstag Dir zu wünschen, was nicht gerade schon in den bekannten Knittelvers eingezwängt ist: „Möge jeder von uns immer so gut und glücklich sein, wie der andre es nur immer wünschen kann, möge das Bild, das liebenswerthe Bild, was ein jeder von dem andern im Herzen trägt, möglichst mit der Wahrheit gleiche Züge haben.“
Denn es ist ja richtig, ganz als Ideale Persönlichkeit wirst Du mich ja wohl nicht auffassen, was ja doch ein haarsträubender Irrthum wäre. Aber doch werde ich im Ganzen und Großen mit recht hübschen Linien und weichen Tinten in Deinem Herzen verzeichnet stehn. Und Du kannst auf etwas Ähnliches auch bei mir rechnen, ob gleich meine Malertalente nicht groß sind und ich leicht einmal etwas zu schwarze Farben anwende, auch wohl in einigen mißvergnügten Momenten alles, Sachen und Personen, Engel und Menschen und Teufel sehr dunkel und durchaus unschön vor mir sehe. Immer bleibt es ja wahr, daß ein jeder nicht so gut ist, als er in den Augen liebender Menschen erscheint. Aber gerade darin liegt ein Antrieb zum Guten; denn wir wollen nicht, daß die, die uns die liebsten sind, sich über uns täuschen.
Zu dieser liebevollen Täuschung trägt noch etwas anderes bei, das ist die weite Entfernung von einander. Ihr bekommt nur Fragmente aus meinem Leben zu Gesicht, das sind die Briefe. Und Briefe als Erzeugnisse einer gehobenen Stunde werfen zumeist — wenn sie nicht gerade von Geldsachen <handeln> — einen [+ + +]bende Persönlichkeit. So kommt es dann, daß Du in den Ferien Deine Verwunderung aussprichst, ich sei doch lange nicht so gut und liebenswürdig als Du Dir vorgestellt hättest. Das ist recht schmerzlich, aber ich habe es Dir psychologisch erklärt.
Nun die Nutzanwendung meiner „langweiligen“ Zeilen: Meine liebe Lisbeth, ich habe Dich heute ganz besonders lieb und wünsche, daß Du Dich weder in mir, noch ich mich in Dir allzusehr täusche. Wir sind einander ziemlich strenge Richter, weil jedes Unangenehme, was wir von einem von uns hören, das schöne Bild in der Seele alterirt.
Seien wir besonders in dem, was uns gemeinsam eine freudenreiche Pflicht ist, so gewissenhaft wie möglich, und nicht nur in Worten und Briefen, sondern in Thaten, in unserer Liebe zu [+ + +]
Von dem Buchbinder, der mir das kleine gedankenreiche Dir dargebrachte Buch <einbinden> sollte, habe ich ein recht schwarzes Bild mir gemacht; denn er hat den Term<in auf> das schnödeste vergessen, und so kommt Brief und Buch vielleicht gar zu spät.