1865, Briefe 459–489
479. An Raimund Granier in Grünberg
<Naumburg, zweite Septemberhälfte 1865>
Mein lieber Granier,
Es geschah alles, wie Du vorausgesehen, ich sah den Brief höchst neugierig vorn und hinten an, las endlich die Unterschrift und war etwas überrascht. Nicht unangenehm, bewahre! Aber was der Mensch für ein schlechtes Gedächtniß hat — nämlich der gewöhnliche Mensch, homo vulgaris, an jeder Landstraße ohne Laterne zu finden — mir war es nämlich, als ob aus der Vergangenheit her immer noch ein kleiner Schatten zwischen uns stünde — umbra vulgaris ebenfalls sehr häufig, in jeder Seele zu finden — davon fand ich aber in dem Briefe nichts, kurz ich machte meinem Gedächtniß Vorwürfe und freute mich des Gegenwärtigen. Da Du nun auf eine so herzliche Weise mich zum Mitwisser Deiner Kümmernisse gemacht hast, so will ich versuchen auf Deinen Ton einzugehen und Dir meine eignen Erfahrungen auf dem betreffenden Gebiete erzählen. Ich habe einer Verbindung angehört, die sich Burschenschaft nannte und den Vorzug besaß ziemlich alle Bonner Pförtner in sich zu vereinigen. Offen gestanden war dies fast der einzige Vorzug — denn das was ich von einer Burschenschaft verlange, erfüllte sie nicht auch bei noch so bescheidnen Ansprüchen. Es scheint daß unsre Jugend wirklich zu wenig denkt. Das Verbindungsleben ist fortwährend in Gefahr an der Klippe von Äußerlichkeiten, von Formalitäten, von Gedankenlosigkeiten aller Art zu scheitern.
Die „Gemüthlichkeit“ dieser Art ist mir in der Erinnerung unerträglich; die politische Gesinnung war in einzelnen Köpfen, Corporationsgefühl war das Entsprechende bei den Meisten, die eben im Saufen, Pauken und Rennommiren die schöne Jugendzeit zu genießen glaubten. Ueber die sittlichen Zustände schreibe ich nichts näheres, sie waren traurig genug.
Es sitzt ein Kern von unerhörter Philistrosität in dieser Masse, darin behält Börne ewig Recht. Dieses Begeisterungslose, ernst Täppische, dies Gemeine, Alltägliche der Gesinnung, diese trockenste Nüchternheit, die sich am häßlichsten in der Trunkenheit offenbart, — Götter, wie froh bin ich, daß ich dieser schreienden Einöde, dieser hohlen Fülle, dieser greisenhaften Jugend entronnen bin!
Mein lieber Granier, Du hast vollkommen recht, Menschen, die man lieben und achten kann, noch mehr, Menschen, die uns verstehen, sind lächerlich selten. Aber wir sind Schuld daran, wir sind um 20, 30 Jahre zu spät in die Welt gekommen — oder ist es auch wieder eine Täuschung, die uns jene geistesrege Zeit in hellem Lichte erscheinen läßt — denn wir armen Menschen täuschen uns immer, sobald wir etwas Vergangenes schön finden, unser Glück ist Täuschung und die Glücklichsten sind die, die sich am gründlichsten täuschen.
Ich habe mich oft schon gefragt, ob wirklich das Glück für den Menschen das Erstrebenswürdigste ist, dann wäre ja der Dummkopf der schönste Vertreter der Menschheit, und unsre Helden des Geistes, „so wahr Denken Gram ist“ mindestens Narren, von der Gattung abfallende Affen oder Halbgötter, und das letztere wäre wahrlich das schlimmere Loos. Denn unsre Naturforscher leiten uns mit Vorliebe von Affen ab und vernichten alles, was überthierisch ist als unlogisch. Und beim Zeus, lieber Affe als unlogisch. Sieh jede Richtung der Wissenschaft, der Kunst an, der Affe zeigt sich in unsrer Zeit eclatant, aber wo bleibt der Gott? Nicht einmal weltschmerzlich darf man sein, wenn nicht Byron uns eine große Affenfratze schneiden soll, ja ich dürfte nicht einmal Deinen Brief in dieser schnöden Weise beantworten, wenn ich eben nicht Affe sein wollte oder etwas anderes sein könnte
Nach diesem Wirrsal von unlogischen Äußerungen kommt die Wirklichkeit wie ein Tölpel nachgehinkt. Siehe, Du gehst gen Berlin, ich gen Leipzig. Schaafe werden wir genug finden.
Unsre Ordnung ist in die größte Unordnung gerathen
„und schwand ich erst, dann denkt wohl keiner mehr zuweilen an den fernen Freund zurück“
um einen Dichter der Neuzeit zu citiren.
Briefe bekam ich nicht, Deussen sitzt in Büchern verschüttet, Bohr scalpirt, Rödiger renommirt, Krebel zieht auch nach Berlin, Oertzen ist Saxoborusse in Heidelberg, Gersdorff kommt mit mir nach Leipzig um germanistische Philologie zu treiben, in Pforta ist alles gut gegangen, Schmeisser und Pater haben gestern in Kösen Abschiedsfraß gefressen, ich selbst schreibe über meinen Codex des Theognis und reise nach Berlin wo ich bis zum 20t. Okt. bleibe. Dort sehen wir uns,
Du, lieber Granier und ich.