1865, Briefe 459–489
470. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Bonn, Freitag Morgen <Zweite Junihälfte 1865>
Liebe Mama,
Du hast mir durch Deinen letzten Brief eine ganz besondere Freude gemacht. Er erweckte in mir Sehnsucht nach Dir und nach Naumburg, ich fühlte mich so heimisch beim Lesen aller dieser kleinen liebenswürdigen Erlebnisse, und zugleich überkam mich dieselbe Stimmung, aus der heraus jener Brief geschrieben worden ist, jene stille ruhige freudige Stimmung, die im lebhaften Gegensatze zu der Vielgeschäftigkeit und Ueberfülle meiner gegenwärtigen Interessen steht.
Und trotzdem bekommst Du so spät darauf Antwort!
Ohne mich aber weiter zu entschuldigen will ich sogleich anfangen, Dir einiges zu erzählen. An Lisbeth habe ich auf ihren Wunsch nach Colditz geschrieben, vielleicht ist sie wieder zurückgekehrt. In diesem Briefe habe ich einige meiner Musikfesterlebnisse mitgetheilt. Mündlich will ich Dir noch manches davon weiter ausführen. Sicherlich war es das Schönste, was ich in diesem Jahr erlebt habe.
Wir haben hier ein höchst vortreffliches Wetter und benutzen es auch. Bonn ist aber, wie ich Dir schon geklagt habe, eine durchaus ungesellige Stadt. Man ist auf den Umgang mit Studenten angewiesen, die Familienkreise sind streng exclusiv gegen alles, was nicht auf das förmlichste eingeführt ist. Selbst unter den Studirenden herrscht ein kalter, vornehmer Ton. Ich freue mich sehr auf die total andre Lebensweise in Leipzig, wo ich mich, umgeben von lieben Freunden, in der Nähe von Naumburg und mitten in einer Fülle von Musikanregungen, überhaupt recht wohl fühlen werde. Dazu kommt, daß ich dort sicherlich einige Familien kennen lernen werde.
Sehr stößt mich hier ab die bigotte katholische Bevölkerung. Ich wundre mich oftmals, daß ich wirklich im 19t. Jahrhundert lebe. Neulich war das Frohnleichnamfest. Prozessionen nach der Art der Kirschfestaufzüge, alles sehr geputzt und daher eitel, und trotzdem krampfhaft fromm thuend, quäkende und krächzende alte Weiber, sehr große Verschwendung mit Weihrauch, Wachskerzen und Blumenguirlanden. Am Nachmittag desselben Tages gab eine echte Tyrolergesellschaft ein Conzert, mit der gewöhnlichen gemachten Natürlichkeit, mit der Stereotypen Rührung beim Andreas-Hoferlied.
Ihr werdet in den Zeitungen von dem Feste in den Rheinlanden gelesen haben. Bekanntlich wurden vor 50 Jahren die Rheinlande mit Preußen vereinigt. Zur Feier war der König mit dem Generalstab und etzlichen Ministern erschienen. Die Zeitungen sprechen von dem Jubel und der Begeisterung des Volks. Ich bin selbst in Köln gewesen und kann diesen Jubel beurtheilen. Ich war beinahe erstaunt über eine derartige Kälte der Massen. Ich begreife aber auch wirklich nicht, woher jetzt gerade der Enthusiasmus für König und Minister kommen soll. Trotzdem war die Feier äußerlich höchst imposant. Der Rhein und die Rheinbrücke, die unzähligen Hotels am Rhein, die Thürme und der mächtige Dom buntfarbig erleuchtet, fortwährendes betäubendes Schießen mit Kanonen und Flinten, unendliche Massen von Feuerwerk an allen Punkten zugleich angezündet — alles das, vom gegenüberliegenden Ufer aus gesehen, gab einen Eindruck, der an das Zauberische grenzte; man kann sich keinen schönern Operneffekt ersinnen. Der König fuhr auf einem Dampfschiff dazwischen auf und nieder, die kölnische Jugend machte Enthusiasmus, indem sie den Düppelmarsch sang, und die Menge jauchzte beim Anblick so schöner Dinge — und der Monarch freute sich.
Schöne Uniformen, liebe Lisbeth, habe ich da gesehn. Aber die alten Herren Generale, die so schöne Uniformen trugen, führten sich gutmüthig lachend durch die Straßen Köln<s>; denn sie hatten das große Düppelgefecht eines Diners glücklich überstanden und waren alle sehr siegestrunken.
Neulich haben wir, dh. die Frankonen mit den zwei andern Burschenschaften Helvetia und Marchia einen gemeinschaftlichen Commers gefeiert. Hei! Welche Beseligung! Hei! Was hat nicht alles die Burschenschaft gethan! Hei! Sind wir nicht die Zukunft Deutschlands, die Pflanzstätte deutscher Parlamente! —
Es ist mitunter schwer, sagt Juvenal, keine Satyre zu schreiben. —
Daß wir unsre Mützenfarben gewechselt haben, habe ich Dir schon geschrieben. Wir tragen jetzt schöne rothe Stürmer mit goldner Litze und schwarzem breiten Sturmband.
Ich werde in den nächsten Tagen mich brieflich an den Onkel Schenk in Jena wenden und ihn um Quartier für mich bitten. Die große Feier scheint sehr weitgreifend und großartig zu werden.
Für die Ferien mache ich mir allerlei hübsche Pläne. Nach Plauen möchte ich sehr gern. Von dort nach Klingenthal. Vielleicht mit Lisbeth zusammen.
Nun will ich schließen. Denn ich habe Colleg bei Springer.
Schicke mir ja recht pünktlich die 40 Thl. für den Juli.
Mit Geldsachen will ich den Brief nicht verderben. Denke recht freundlich an mich, liebe Mama, und schreib mir bald einmal einen so angenehmen Brief. Grüße die liebe Lisbeth und alle Verwandte und Bekannte herzlich von
Deinem Fritz.