1878, Briefe 675–789a
736. An Carl Fuchs in Hirschberg
<Basel, zwischen 20. und 27. Juli 1878>
Also auch Sie, lieber Herr Doktor, sind in Betreff W<agner>’s in die Krisis gerathen! Nun, so werden wir wohl die Ersten sein; in meinem Buche habe ich in dieser Hinsicht die größte Schonung geübt, obwohl über zwanzig Punkte zum Entsetzen aller Wagnerianer in mir die Wahrheit feststeht. Irgend wann wird sie auch an’s Licht müssen — aber dringend bitte ich Sie, ja nichts zu übereilen und alle Gährung erst verbrausen zu lassen, daß es auch in diesen Dingen einen edlen hellen Wein gäbe: Schreiben Sie jetzt nicht über Wagner! Was werden Sie noch alles entdecken! Sie sind ja in der günstigsten Unabhängigkeit von Bayreuth und den andren „Richtungen“; was Wagner und Frau Wagner von Ihnen denken, muß Ihnen ganz gleichgültig sein. W<agner> selbst ist alt und hat keinen Frühling mehr zu erwarten, die Wahrheit aber altert nicht und muß in diesen Dingen ihren Frühling erst noch erleben. — Eine einzige Combination von Fähigkeiten und Kenntnissen berechtigt Sie dazu, das Charakteristische des Stils bei jedem der großen Meister zu beschreiben — zum ersten Male, wie ich meine. Thun Sie dies doch zuerst einmal thesenhaft, aphoristisch, in der knappsten Form und mit haarscharfem Ausdruck. Ein halbes Tausend musikalischer Einzelsätze und Beobachtungen von Ihnen, die Quintessenzen Ihrer Erfahrungen — das giebt Ihnen Namen und Stellung.
Nur nichts Periodisches und Kleines (seien es „Briefe“ oder Aufsätze für Zeitschriften), bevor Sie Sich nicht erst als Ganzes gezeigt haben! — Verzeihung, wenn mein Wunsch, Sie endlich in der Achtung der Achtung-Verleihenden befestigt zu sehen, mich in meinen Rathschlägen zudringlich erscheinen läßt. — (Mein Plan, ein „Jahrbuch der Freunde“ herauszugeben, kann vor 2 und mehr Jahren nicht in Ausführung gebracht werden: Schmeitzner’s Ungeduld soll mich nicht zum Thoren machen. Dies privatissime.) Nichts liegt mir ferner als eine Concurrenz mit so erbarmenswürdigem Zeug, wie die „Bayreuther Blätter“ sind; und überhaupt — eine Orientirung nach irgend einem Bayreuther Sehwinkel. Auch Sie sprechen noch von einer „Spaltung im eignen Lager“. Was geht mich jetzt ein „Lager“ an !!!!! Gar noch gegen Wolzogen! schreiben! wie konnte Ihnen das in den Sinn kommen, lieber verehrter Herr Doktor! Ich weiß mitunter nicht, wie Sie Sich eigentlich taxiren. — Nochmals Verzeihung!
Meinen Bekannten mißfällt Ihr Stil in den gedruckten Sachen. Die Gründe sind 1) die Sätze sind 4mal zu lang 2) Sie affektiren Gelehrtenhaftigkeit, recht künstlerhaft, aber eine schreckliche Geschmacksverirrung (fremde wissenschaftl<iche> Worte und Begriffe im Überfluß) 3) die Hauptsachen kommen nicht stark und stämmig heraus, die Neben-Einfälle überwuchern sie, Sie schneiden nicht genug weg und arbeiten nicht genug um 4) Ihr Geist liebt es spitz zu werden, es ist das Geheimniß der guten Schriftsteller, nie für die subtilen und spitzen Leser zu schreiben.
Nicht wahr, Sie verargen mir diese epistula didactica nicht! — Womit sollte ich auch eine solche ehrliche Mittheilung als Ihre letzte war, vergelten als mit Ehrlichkeit?
Ganz Ihnen ergeben F N.