1878, Briefe 675–789a
727. An Erwin Rohde in Jena
<Basel, kurz nach dem 16. Juni 1878>
So ist’s recht und schön, liebster Freund: wir zusammen stehen doch noch nicht auf einem thönernen Gestell, das ein Buch gleich umwerfen möchte.
Ich warte diesmal in Ruhe ab, wie die Wellen, in denen meine armen Freunde herum plätschern, sich allmählich legen: habe ich sie in diese Wellen hineingestossen — lebensgefährlich ist’s nicht, das weiss ich aus Erfahrung; und wenn’s freundschaftsgefährlich hier und da sein sollte — nun, so wollen wir der Wahrheit dienen und sagen: „wir liebten bisher aneinander eine Wolke“.
Vieles wäre zu sagen, noch mehr Unsägliches dabei zu denken: im Scherz sei nur der Vergleich gewagt, dass ich einem Manne gleiche, der eine grosse Mahlzeit veranstaltet und dem Angesichts aller guten Speisen die Gäste davon laufen. Wenn da Einer oder der Andre wenigstens einige Bissen sich schmecken lässt (wie Du Lieber Guter den Graecis die Ehre anthust) so ist besagter Mann darüber schon sehr erbaut.
Grüble nicht über die Entstehung eines solchen Buches nach, sondern fahre fort, dies und jenes Dir herauszulangen. Vielleicht kommt dann auch einmal die Stunde, wo Du mit Deiner schönen constructiven Phantasie das Ganze als Ganzes schaust und an dem grössten Glücke, das ich bisher genoss, theilnehmen kannst.
Beiläufig: suche nur immer mich in meinem Buche und nicht Freund Rée. Ich bin stolz darauf, dessen herrliche Eigenschaften und Ziele entdeckt zu haben, aber auf die Conception meiner „Philosophia in nuce“ hat er nicht den allergeringsten Einfluss gehabt: diese war fertig und zu einem guten Theile dem Papier anvertraut als ich im Herbste 1876 seine nähere Bekanntschaft machte. Wir fanden einander auf gleicher Stufe vor: der Genuss unserer Gespräche war grenzenlos, der Vortheil gewiss sehr gross, auf beiden Seiten (so dass R<ée> mit liebevoller Übertreibung mir in sein Buch (Urspr<ung> d<er> mor<alischen> Empf<indungen>) schrieb „dem Vater dieser Schrift dankbarst dessen Mutter“
Dadurch erscheine ich Dir vielleicht noch fremdartiger, unbegreiflicher? Fühltest Du nur, was ich jetzt fühle, seitdem ich mein Lebensideal endlich aufgestellt habe — die frische reine Höhenluft, die milde Wärme um mich — Du würdest Dich sehr, sehr Deines Freundes freuen können. Und es kommt auch der Tag.
Von ganzem Herzen
Dein F.
Meine liebe Schwester grüsst von Herzen. Weisst Du schon, dass sie in 2 Wochen nach Naumb<urg> zurückkehrt?