1878, Briefe 675–789a
711. An Karl Hillebrand in Florenz
<Naumburg, Mitte April 1878>
Hochverehrter Herr
nach einem Winter schwerer Erkrankung genieße ich jetzt im Wiedererwachen der Gesundheit Ihre vier Bände „Völker Zeiten und Menschen“ und freue mich darüber wie als ob es Milch und Honig wäre. O Bücher, aus denen eine europäische Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff! Wie das den Lungen wohlthut! Und dann: ich möchte den Autor sehen, der Ihnen an Unbefangenheit und wohlwollendem Gerechtigkeits-Sinne gleichkäme — oder vielmehr: ich will mich bemühen, alle Autoren — wie wenige werden es aber sein! — kennen zu lernen, die Ihnen in Betreff jener hohen Tugenden nahe kommen. —
Wie danke ich Ihnen, daß Sie diese Aufsätze gesammelt haben! Sie wären mir sonst fast ganz entgangen, da ich weder Zeitungen noch Zeitschriften lese und überhaupt, der Nähe der Erblindung wegen, sehr wenig lese (und schreibe)
Dies erinnert mich daran, daß Sie auch über meine Schriften gesprochen haben: es ist bei weitem das Einzige, was mir von dem, was mir von Urtheilen über dieselben bekannt geworden ist, wirklich Freude gemacht hat. Denn hier urtheilt ersichtlich die Überlegenheit (in Erfahrung und Geschmack und einigen andren Dingen —), da ergreift der Beurtheilte, wenn er kein Narr ist, mit Vergnügen gegen sich selber Partei. Und wie gerne man von Ihnen lernt!
Von Herzen dankbar und ergeben
Dr. Friedrich Nietzsche,
Universität Basel (Schweiz).
Verargen Sie dem Philologen eine Pedanterie nicht: es heißt „das Sophisma“, nicht „der Sophismus“ — ich bitte um Verzeihung! —