1863, Briefe 340–403
350. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Pforta, 16. April 1863>Donnerstag früh.
Liebe Mutter.
Wenn ich dir heute schreibe, so ist es mir eins der unangenehmsten und traurigsten Geschäfte, die ich überhaupt gethan habe. Ich habe mich nämlich sehr vergangen und weiß nicht, ob du mir das verzeihen wirst und kannst. Mit schwerem Herzen und höchst unwillig über mich ergreife ich die Feder, besonders wenn ich unser gemüthliches und durch keine Mißlaute getrübtes Zusammenleben in den Osterferien mir vergegenwärtige. Ich bin also vorigen Sonntag betrunken gewesen und habe auch keine Entschuldigung weiter, als daß ich nicht weiß, was ich vertragen kann und den Nachmittag gerade etwas aufgeregt war. Wie ich zurückkam, bin ich von Ob<er>l<ehrer> Kern dabei gefaßt worden, der mich dann Dienstag in die Synode citieren ließ, wo ich zum Dritten meiner Ordnung herabgesetzt und mir eine Stunde des Sonntagspaziergangs entzogen wurde. Daß ich sehr niedergeschlagen und verstimmt bin, kannst du dir denken und zwar mit am meisten, daß ich dir solchen Kummer bereite durch eine so unwürdige Geschichte, wie sie mir noch nie in meinem Leben vorgekommen ist. Und dann wie thut es mir auch des Pred. Kletschke wegen leid, der mir erst solches unerwartetes Vertraun erwiesen! Durch diesen einen Fall verderbe ich mir nun meine leidliche Stellung, die ich mir in vorigem Quartal erworben hatte, völlig. Ich bin auch so ärgerlich über mich, so daß es mit meinen Arbeiten gar nicht vorwärtsgehn will und kann mich noch gar nicht beruhigen. Schreib mir doch recht bald und recht streng, denn ich verdiene es, und keiner weiß mehr als ich, wie sehr ich es verdiene.
Ich brauche dich wohl nicht weiter zu versichern, wie sehr ich mich zusammennehmen werde, da es jetzt sehr darauf ankommen wird. Ich war auch wieder zu sicher geworden und bin jetzt, allerdings höchst unangenehm, aus dieser Sicherheit aufgescheucht worden.
Heute werde ich zu Pred. Kletschke gehn und mit ihm reden. — Bitte, erzähle übrigens die ganze Sache nicht weiter, wenn sie sonst nicht schon bekannt sein sollte.
Schicke mir übrigens doch baldigst meinen Shawl, ich leide jetzt immer noch an Heiserkeit und Brustschmerzen. Auch den betreffenden Kamm.
Nun lebe wohl und schreib mir ja recht bald und sei mir nicht zu böße, liebe Mutter.
Sehr betrübt
Fritz.