1867, Briefe 535–558
556. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Naumburg 1 Dezember 1867.
Hochverehrter Herr Geheimrath,
täglich vom Anbruche des Morgens bis in die Winterabende hinein mit einfältigen Rekruten langsamen Schritt üben oder über Satteln und Honneur machen belehrt zu werden stumpft in seinem ewigen Einerlei so den Kopf ab, daß man für ein gutes Glas Wein und eine fröhliche Nachricht empfänglicher als je wird. Und eine fröhliche Nachricht war es, die ich Ihrem letzten Briefe verdanke, fröhlich wie keine in der letzten Zeit. Insbesondre hat das mitgeschickte iudicium mich über manche schwere Stunde der Gegenwart hinweggehoben: denn es kam wie aus meiner wahren Welt herüber und rief mir ins Gedächtniß, daß meine augenblickliche Existenz nur ein Intermezzo und ohne wesentliche Bedeutung für Leben und Lebensaufgabe sei.
Daß diese zeitweilige Existenz aber langgehegte Pläne schonungslos durchkreuze, merke ich auch wieder bei dieser besondren Gelegenheit. Sollte ich Ihnen nicht schon einmal mitgetheilt haben, daß über das ganze Gebiet der Suidasfragen ich mich mit Dr. Volkmann in Schulpforte so weit geeinigt habe, daß wir daran dachten unitis viribus ein diesen Fragen gewidmetes Buch zu machen — das auch eine Herstellung des ὀνοματολόγος des wahren Hesychius Milesius enthalten sollte —. Daraus kann jetzt nichts werden. Vielmehr ist augenblicklich nur das Eine an der Stelle, was Sie gefälliger Weise mir auch vorschlagen: der Aufsatz erscheint baldigst im rheinischen Museum; als welches auch einer etwaigen Abhandlung Volkmanns sicherlich gern seine Spalten öffnen wird.
Freilich muß nun das gelehrte Publikum mit meiner Arbeit, so wie sie ist, fürlieb nehmen dh. mit einem Entwurfe, der zwar den Gang der Hauptgedanken deutlich giebt, aber eine Menge Einzelbelege und sonstige Füllstücke bei Seite liegen läßt. Denn ich bin selbst mit jenem Satze des akademischen Urtheils, so schmeichelhaft er auch klingt, sehr wenig einverstanden: vix quidquam reliquerit in ea quaestione, quod aut addi aut demi posse videretur. Addere könnte ich viel, kann aber bei meiner augenblicklichen Lage gar nichts. Was aber das demere betrifft, so bitte ich darum, daß mir mein Manuscript, bevor es in die Druckerei wandert, noch einmal zugeschickt werde. Übrigens würde ich gern einige Andeutungen hören, ob vielleicht die eingestreuten polemischen Urtheile den Worten nach etwas zu mildern sind oder stehen bleiben können. Man gestattet sich im lateinischen Ausdruck nach leidiger Philologenmanier leicht ein derberes Wort als nöthig ist.
Das ist es, hochverehrter Herr Geheimrath, was ich Ihnen heute zu schreiben habe: denn wozu das noch hinzufügen, was sich von selbst versteht und was den Grundbaß zu allem bildet, das Ihnen zu sagen und zu schreiben hat
Ihr getreuer und dankbarer
Friedrich Nietzsche