1867, Briefe 535–558
535. An Hermann Mushacke in Berlin
Naumburg am 4t. Januar 1867.
Lieber Freund,
recht wohl weiß ich, daß in einem meiner Kästchen in Leipzig ein fertiger Brief an Dich liegt: doch fühle ich heute ein solches Bedürfniß, mich mit einem meiner Freunde zu unterhalten und mich im Briefschreiben aufzuheitern, daß ich lieber noch einen neuen Brief schreibe. Und dazu ist ja auch Anlaß reichster Fülle da. Zunächst sind es die üblichen Neujahrswünsche, die erledigt werden sollen. Aber wahrlich, es ist mehr als Gewohnheit, wenn ich Dir heute meine herzlichen Wünsche darbringe. Denn Du hast dieses Jahr einen wichtigen Schritt vor, bei dem das Herz eines Freundes nie gleichgültig bleiben kann. Ich bitte, daß Du auch Deinem verehrten Vater, Deiner lieben Frau Mutter und Großmutter meine Gratulationen aussprichst.
Zweitens schicke ich Dir endlich die Programme wieder und habe leider nichts anderes als ἀντίδοτον zu senden als den schon erwähnten schriftlichen Aufsatz von Lachmann, der für einen Lachmannomanen allerdings mehr Werth hat als für Dich; er ist nämlich, bei Seite gesagt, nicht viel werth, wenn Du den subjektiven und (allenfalls) den culturhistorischen Werth abrechnest. Wie er in meine Hände gekommen ist „auf mannigfach verschlungenen Wegen“, wie er aus Rußlands Innerem und aus dem Nachlasse eines Selbstmörders stammt, erzähle ich Dir ein anderes Mal.
Drittens hätte ich Dir etwas Angenehmes mitzutheilen, falls Du jetzt in Leipzig studirtest. Ritschl hat mir nämlich 2 Themata höchst gefälliger Weise zu Gebote gestellt, um ein paar Freunde für deren Bearbeitung ausfindig zu machen; leider nur unter der schon angegebnen Bedingung. Natürlich dachte ich zuerst an Dich, aber sah zugleich ein, daß es vergeblich sei. Also möglicherweise hätte ich Dir einen kleinen Dienst erweisen können, „doch das Schicksal will es nicht“. Jedes dieser Themata ist hinreichend für eine Doktordissertation, und veranlaßt darauf eine Herausgabe. Es nützt nichts, Dir die Themata zu nennen.
Viertens bin ich Dir noch Näheres schuldig über einen Stoff, für den Du Interesse hast, über eine systematische Behandlung der Interpolationen, mit denen die griechischen Tragiker versetzt sind. Es war ursprünglich meine Absicht, darüber meinen nächsten Vortrag im Verein zu halten. Doch habe ich mich in diesen Ferien anders besonnen und einen Aufsatz über die πίνακες der aristotelischen Schriften ausgearbeitet, der z. Th. einen Nachtrag zu meinem letzten Vortrag über die biographischen Quellen des Suidas bildet. Wenn es Dir aber recht ist, so schreibe ich hier flüchtig das Gerippe jener Interpol.theorie nieder, was Dir übrigens sehr alltäglich und ruppig vorkommen wird.
Einleitung. Drei Zeiten und drei Arten der Interpolation:
1. der Schauspieler
2. der Gelehrten
3. der Schreiber (also aus Irrthum)
1. Hauptstück. 3 Tendenzen der schauspielerischen interpolatio.
a) etwas Mißfälliges am Dichter,
- aesthetisch
mißfällig
2 ethisch
soll weggeschafft werden. Oder das veränderte Bühnenwesen verlangt eine Änderung des Stückes.
b) es sollen zeitgemäße Anspielungen hineingebracht werden
c) der Schauspieler will seine Rolle verstärken und will Glanzparthien und Effektstellen sich schaffen.
2. Tendenz der gelehrten Interpolation
a) sie will etwas dunkles erklären
b) etwas Lückenhaftes ausfüllen
3. Tendenz der Abschreiberinterpolation.
Ist nicht, vielmehr zieht er aus Irrthum γλωσσήματα in den Text.
Methode, die verschiednen Interpolationen zu erkennen.
zu 1. a und b) Es müssen ἀναχρονισμοὶ nachgewiesen werden.
zu 1. c.) Alles Überflüssige muß (zB. bei Euripides) zusammengestellt werden nach verschiednen generibus. Der Schluß ist hier immer ziemlich unsicher.
zu 2.) und 3) ist Heimsoeth lehrreich, aber übertrieben.
Hülfsmittel zur Erkenntniß von Interpolationen
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zB. die Scholien. Welchen Werth das athenische Staatsexemplar hat, das nach Alexandria gekommen ist, setzt sehr schön auseinander Korn, de publico Aeschyli Sophoclis Euripidis fabularum exemplari, Bonnae 1863, das ich Dich ja zu lesen bitte. Bei dessen Lektüre fallen einem viele Gesichtspunkte ein zB. sind die scenischen Bemerkungen der Scholien auf wirklicher Tradition beruhend oder verdanken wir sie nur der ratio einiger Grammatiker? (Wahrscheinlich beides: es werden sich unter den Beispielen einzelne genera unterscheiden lassen.)
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Beobachtung moderner Schauspieler und der Regisseure.
Sei mir über diesen langweiligen Abriß, den jeder besser machen kann, nicht böse.
In diesen Ferien habe ich auch die Grundzüge meiner Laert. Diog.arbeit niedergeschrieben, die noch sehr der doctrina, stellenweise der ratio ermangeln. Doch ist es sehr nützlich, sich auf diese Art die Lücken klar zu machen, und deshalb bin ich damit zufrieden.
Auch habe ich das leidige Vergnügen gehabt, die letzte Revision der Druckbogen vorzunehmen. Es sind 40 Seiten, also herzlich wenig. Daß jemand recht gründlich und geringschätzig widerspräche, wäre mir nicht zu erwünscht, aber doch noch erträglich. Es giebt noch schlimmere Möglichkeiten, aber auch noch bessere.
Von meinen anderen Freunden höre ich nichts mehr. Gersdorff ist auf das eifrigste beschäftigt und wird oder hat sein Offizierexamen gemacht. Sicherlich hat er genügende Gründe, warum er nicht schreibt.
Deussen hüllt sich seit meinem letzten Briefe im September oder August in tiefes Schweigen, ja in Nacht und Finsterniß, so daß mir sein Aufenthaltsort, sein Studium, selbst seine Existenz fraglich geworden ist. Doch will ich in diesen Tagen einmal an seine Eltern schreiben.
Schließlich habe ich keinen Grund, Dir zu verhehlen, daß ich heute sehr traurig gestimmt bin. Gestern um diese Zeit nämlich stand ich am Sterbebette meiner Tante Rosalie, die, um es kurz zu sagen, nächst meiner Mutter und Schwester die bei weitem intimste und nächste Verwandte von mir war, und mit der ein großes Stück meiner Vergangenheit, besonders meiner Kindheit von mir gegangen ist, ja, in der unsre ganze Familiengeschichte, unsre Verwandtschaftlichen Beziehungen so lebendig und gegenwärtig waren, so daß nach dieser Seite hin der Verlust unersetzlich ist.
Dazu ein überaus schmerzliches Krankenlager, einige Stunden vor ihrem Tode noch ein Blutsturz. Es war in der Dämmerung, draußen wirbelten die Flocken, sie saß im Bette ganz aufgerichtet, und allmählich kam der Tod mit all den traurigen Anzeichen: was einmal mit vollem Bewußtsein mit angesehn zu haben, eine eigenthümliche Erfahrung ist, die sich nicht so schnell aus dem Kopf verliert.
Wenn darum mein heutiger Brief etwas morose und traurig ist, so verzeih es den Umständen, unter denen er geschrieben ward.
Dein Freund
Friedrich Nietzsche.