1867, Briefe 535–558
545. An Hermann Mushacke in Berlin
<Leipzig, einige Tage vor dem 15. Juli 1867>
Mein lieber Freund,
ich weiß recht wohl, daß dieser mein Brief diesmal ein paar Tage zu zeitig kommt, um Dir meine Geburtstagswünsche zu bringen. Doch was thut dies? Immerhin sind verfrühte Wünsche noch etwas besser als verspätete. Zugleich ersuche ich Dich meine kleine mitfolgende Arbeit freundlich anzunehmen, die offenbar viel zu spät zu Dir gelangt: so mögen denn der verfrühte Brief und die verspätete Gabe sich unter einander compensieren.
Endlich, lieber Freund, ist Aussicht vorhanden, uns wieder öfter zu sehn und zu sprechen: so gewiß ich nämlich nächstes Semester in Berlin zu verleben gedenke. Das freundliche Leipzig, der vir incomparabilis Ritschelius müssen mich doch endlich ziehn lassen, damit ich mir die nöthigen staatsdienstlichen Prädicate in Preußen erwerben kann. Wenn ich momentan meine hiesigen 4 Semester überschaue und zwar mit der Stimmung des Abschiedes und mit dem Auge der Erinnerung: so nehmen sie sich nicht nur sehr interessant aus, sondern auch höchst entscheidungsvoll für mein Leben. Immerhin ist doch hier meine philologische Ader durchgeschlagen, die in Bonn durch das Geröll und Geschlamm des Verbindungsleben arg zurückgehalten war. Dazu nehme ich das Andenken an einen wirklich großen Mann von hier mit, der mich mit Liebe und väterlicher Sorgfalt beachtet hat. Schließlich habe ich das wohlthuende Gefühl, etwas zur Erzeugung und zur Lebensfähigkeit unsres Vereins gethan zu haben. Um nicht der vielen vortrefflichen Leute zu gedenken, die ich hier kennen lernte und von denen zwei, nämlich Rohde und Kleinpaul mir besonders nahe stehn. Und auch jetzt bin ich noch lange nicht fertig mit der Aufzählung Leipziger Vortrefflichkeiten: z.B. wie könnte ich Schopenhauer vergessen, der mir hier an die Seele gewachsen ist. Selbst das Vergnügen, mich zum ersten Male gedruckt zu sehn, ist auf diesem Boden entsprungen. etc. etc.
Nach dieser laudatio ante acti temporis werfen wir einige Blicke auf die Zukunft. Und hier bin ich sogleich genöthigt, Dich mit einer Bitte zu belästigen. Ich möchte nämlich mein Gepäck nicht erst nach Naumburg und von dort aus nach Berlin transportiren lassen, sondern nach Berlin direkt. Entweder nun lasse ich es dort auf dem Bahnhof restante stehen oder einer meiner Freunde, vielleicht Deussen, ist so gefällig, es einstweilen in seiner Behausung liegen zu lassen. Wärst Du nun wohl so freundlich, mir bis zum Ende dieses Monates Juli einmal ein paar Zeilen über diesen Punkt zu schicken, ob es Deussen paßt etc. Ich selbst gedenke Ende August in Berlin einzutreffen. Mein Gepäck aber muß noch am letzten dieses Monates fort, da ich ausziehe. Ich habe spekulative und rücksichtslose Wirthsleute — sapristi.
Was wollen wir alles zusammen in Berlin machen? Unter anderem bilden wir zu unserm Vergnügen und Nutzen einen neuen philologischen Verein; ich will doch sehen, ob ein derartiges Institut in Berlin, in der Stadt der Intelligenz und der logischen Thatsachen, dort nicht doppelt wirken und leben kann als hier, wo man immer mit sächsischer Langsamkeit und Ungewecktheit zu rechnen hat. Sodann reiten wir zusammen: denn auch dies gehört jetzt zu meinen Studien. Zufällig ist es wirklich gekommen, daß wir dh. Rohde und ich Ritschls Colleg nur mit Reitpeitschen besuchen: zufällig, sonst wären wir ja πίθηκοι ' Ερμάννου. Schließlich machen wir Examina und ähnliche Wintervergnügungen uns gemeinsam.
Kurz, ich wünsche, daß wir uns glücklich wiedersehen und wohl befinden mögen. Die Hälfte dieses Wunsches gilt Dir, dem Geburtstagskind, die andre Hälfte mir. Aber die beiden Hälften sind Zwillinge: stirbt der eine, so auch der andre. Darum ein Hoch darauf, daß sie zusammen leben und gedeihen!
Mit den herzlichsten und verbindlichsten Empfehlungen an Deine Angehörigen
Dein Friedrich Nietzsche.