1867, Briefe 535–558
551. An Paul Deussen in Berlin (Fragment)
<Naumburg, Oktober/November 1867>
Mein lieber Freund,
eine Fluth von Gründen bestimmt mich Dir zu schreiben, Pflichten der Dankbarkeit für gastfreundliche Aufnahme und für einen warm empfundenen und inhaltsreichen Brief, vor allem aber der eigne Wunsch, Dich nicht länger im Unklaren zu lassen über mein Befinden in einem Stande, der meinem sonstigen Denken und Treiben fremdartig genug ist.
Du wirst ja durch Mushackes Freundlichkeit gehört haben, daß ich nach einem kraftlosen Versuche an den Wänden des Schicksals hinan und drüber weg zu klettern mich ergab und fortan Kanonier war. Insgleichen wird Dir deutlich sein, daß der Dienst bei der reitenden Artillerie als der schwerste Soldatendienst gilt und daß dem wirklich so ist. Wir müssen zu Fuß, zu Pferde und am Geschütz ausgebildet werden; und um Dir recht einfach vor die Seele zu führen, was dies für Zeit verlangt, so wisse, daß ich jeden Tag durchschnittlich von 7 Uhr morgens bis c. 6 Abends dienstlich beschäftigt bin, eine halbe Stunde des Mittags abgerechnet. Die andre Zeit dh. den Morgen von ¾5 bis 7 und Abends verwende ich zur Aneignung der militärischen Kenntnisse, die ein Offizierexamen in so reichem Maaße beansprucht und zum Weitertreiben derjenigen philologischen Arbeit, deren Vollendung ich bis zu einem naheliegenden Termine versprochen habe.
Also Arbeiten mit vollen Segeln, körperlich und geistig, in der Reitbahn und im Turnier der Gedanken, am Geschütz und mit den Geschossen der Logik, auf dem Exercierplatz und in der Denkschule der Alten.
Mein lieber Freund, um eine Apologie Schopenhauers zu schreiben, die Du durch Deinen Brief herausforderst, habe ich nur das Faktum mitzutheilen, daß ich diesem Leben frei und muthvoll ins Antlitz schaue, nachdem meine Füße einen Grund gefunden haben. „Die Wasser der Trübsal“ um in Bildern zu Reden, bringen mich nicht von meinem Pfade ab, denn sie gehen mir nicht mehr über den Kopf.
Das ist natürlich nichts als eine ganz individuelle Apologie. Aber so stehen wir nun einmal. Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins Ohr: „Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis, Du in jenem. Laß mir doch meine eigne Nase, wie ich Dir die Deinige nicht nehmen werde.“
Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich zeitgenössische Philosophen höre oder lese und ihren Ruf bemerke und frage eindringlich wie jener bekannte Hamlet seine Mutter fragte „Habt ihr Augen? Habt ihr Augen?“ Ich meine, sie haben keine, aber ich kann mich irren und die meinigen sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und ein Pferd verwechsle. Aber sei es so: wenn ein Sklave im Gefängniß träumt, er sei frei und entbunden seiner Knechtschaft, wer wird so hartherzig sein, ihn zu wecken und ihm zu sagen, daß es ein Traum sei. Wer wird es sein? Nur ein Büttel, und weder ich, noch Du werden Lust haben, dessen Rolle zu spielen.
Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühlen mit einem großen Geiste, sympathisch auf seine Ideengänge eingehen zu können, eine Heimat des Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden gefunden zu haben — wir werden dies andern nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst nicht rauben lassen. Sei es ein Irrthum, sei es eine Lüge — — —