1867, Briefe 535–558
549. An Hermann Mushacke in Berlin
Naumburg Freitag <4. Oktober 1867>
Mein lieber Freund,
wir sind selten des Schicksals Herren, aber glauben es zu sein, wenn es lange Zeit uns günstig war. Dies soll keine Einleitung zu einer Tragödie, sondern nur die Vorbemerkung zu einer Zwischenaktsmusik sein, die ich in diesem Leben nicht mehr zu hören hoffte. Trommeln und Pfeifen, kriegerischer Klang! Das Schwert schwebt nicht über meinem Haupte, sondern an meiner Seite, diese Feder in meiner Hand wird in Kürze ein Mordgewehr sein, diese mit Notizen und Entwürfen bedeckten Papiere werden wahrscheinlich etwas Modergeruch annehmen. Der Kriegsgott hat mein begehrt. d. h. man hat mich für tauglich zum Freiwilligendienst befunden, während ich noch bei meiner Abreise nach Halle zur Philologenversammlung im Glauben stand, daß dieser Kelch an mir vorüber gegangen sei. Mit großer Mühe habe ich durchgesetzt, daß ich wenigstens einen Versuch machen darf, ob man mich in einem andern Orte als Naumburg ist und bei einer andren Truppengattung als Artillerie annehmen will. Mißlingt der Versuch, so beginne ich am nächsten Mittwoch die hiesigen Kanonen zu umarmen — mit mehr Ingrimm als Zärtlichkeit. Inzwischen aber gilt es einen Versuch.
Vielleicht kann ich in Berlin bei dem 2ten Gardeinfant.regiment ankommen. Zu diesem Behufe werde ich also morgen d. h. Sonnabend ¾12 Uhr von Naumburg abreisen und Abends in Berlin eintreffen. Daß ich bei dieser Gelegenheit Dir sehr dankbar wäre, wenn ich Dich auf dem Bahnhofe träfe, wage ich hier anzudeuten. Denn Du kennst meine Ungeschicktheit in einer fremden und großen Stadt. Auf diese unerwartete Weise ist unser Zusammentreffen viel näher gerückt als es mir noch gestern denkbar war; und es ist dies so ziemlich das Einzig Angenehme, das mir der plötzliche Eingriff des Mavors in meine Absichten verschafft. Dagegen sind meine Wünsche für die nächste Zukunft völlig durchkreuzt.
In wiefern, werde ich Dir persönlich erzählen.
Somit, lieber Freund, habe ich meine Ankunft in Berlin angemeldet und Dich um eine große Gefälligkeit ersucht. Wenn Du nicht kommen kannst, so werde ich mir trotzdem gestatten, bei Dir einmal vorzufragen. Einstweilen sage Deinen verehrten Angehörigen meine herzlichsten Grüße!
— Und wie viel Schönes brachten nicht gerade die letzten Wochen! Welche Genüsse bei dieser Philologenversammlung, bei der ich eine Unzahl alte Bekannte traf. Als am ersten Abende in den weiten Sälen des Schießgrabens die angekommnen Gäste — c. 500 — durcheinanderflutheten, da stand ich da, wie Elisabeth im Tannhäuser, als die Pilger aus Rom zurückkommen und sie in jedem Gesichte die bekannten Züge Heinrichs zu finden hofft. Sie täuscht sich, und ich täuschte mich auch. Freund Mushacke war nicht unter den philologischen Pilgern.
Addio a rivederla
Fritz Nietzsche.