1862, Briefe 292–339
324. An Raimund Granier in Fraustadt
Gorenzen 28 Juli 62.
Kernloser Körner!
Granloser Kranich!
Sehen Sie einmal! Dank Ihrer ausgezeichneten Gedächtnißkraft — nach ein paar Wochen der Trennung total vergessen, ersäuft im Meere neuer, anziehenderer Persönlichkeiten! Ich habe die Ehre, Ihnen brieflich zu melden, daß ich noch lebe. Sollten Sie sich an der Zugluft meines Briefes erkälten — bedaure sehr, aber Sie haben in Ihrem tiefinnerlichen Wesen Hitze genug, um diese schwarzen Zeilen weiß zu brennen. Sie würden sich mir übrigens sehr verbinden, wenn Sie nicht auf den alten, abgelebten Gäulen von Entschuldigungen vor mir Parade ritten, damit Sie ja nicht in Ihrer Verlegenheit aus dem Sattel in den Schmutz fallen und mir letzteren ins Gesicht spritzen. Der Brief wäre eigentlich lang genug, um Ihnen die Langeweile der Ferien vorzustellen, die ich ohne Sie.... mein Gott, an welche Sie denken
Sie denn? Ich meine eben Sie und ohne L. zugebracht habe;
er wäre auch kurz genug, um Ihnen in Kürze gemeldet zu haben, daß Sie ein famoser, liebenswürdiger, gutmüthiger, intellegenter junger Mann sind, der leider den Kopf verloren hat, wahrscheinlich im weiten Sack seines Herzens.
Fragen Sie, wohin ich gereist bin? Nach Gorenzen, mein Lieber, um dort Ihrer früh, Mittags und Abends in allen Gebeten zu gedenken. Fragen Sie, womit ich mich beschäftigt habe — mit Widerlegungen des Materialismus, während Sie an ihn zu glauben scheinen — Glauben Sie doch an ein Zusammenprallen der Geister, weshalb Sie schwarze Herzensergüsse in Tintensaft nicht lieben, — außerdem mit dem Rousseauschen Emil, von dem Sie etwas Natürlichkeit und Bildung lernen könnten, auch, daß man seine Versprechen halten müsse. Fragen Sie was ich componiert habe? Ein Lied ohne Worte auf Ihre Brief und Gedankenlosigkeit — denn die Worte blieben mir vor Langeweile im Halse stecken. Was ich gedichtet habe? Lieder, lauter Lieder — aber nicht auf Sie, so hoch habe ich mich nicht verstiegen.
Der Plan zu meiner widerwärtigen Novelle — ach Gott, Sie habend auch vergessen! Gleichviel! — habe ich, als ich das erste Kapitel geschrieben hatte, vor Ekel über Bord geworfen. Ich sende Ihnen das Monstrummanuscript zum Gebrauch auf nun, wie Sie wollen. Als ichs geschrieben, schlug ich eine diabolische Lache auf — Sie werden selbst schwerlich nach der Fortsetzung Appetit haben.
Außerdem folgen noch zwei Lieder, das erste eine Probe meiner Kirchenlieder, ein Genre, dessen Pflege sie bei mir schwerlich vermuthet — und das andre, ein Stückchen Selbsterlebniß, wenn Sie’s glauben, worüber Sie — Dank ihrem natürlichen Geschmack — ein Gelächter erheben werden. Sonst verbleibe ich bis auf ein baldig Wiedersehn
FWvNietzky (alias Muck)
homme étudié en lettres
(votre ami sans lettres)
I.
1. Du hast gerufen:
Herr, ich eile
Und weile
An deines Thrones Stufen.
Von Lieb entglommen
Strahlt mir so herzlich,
Schmerzlich
Dein Blick ins Herz ein: Herr, ich komme.
2. Ich war verloren,
Taumeltrunken,
Versunken,
Zur Höll’ und Qual erkoren.
Du standst von ferne:
Dein Blick unsäglich
Beweglich
Traf mich so oft: nun komm’ ich gerne.
3. Ich fühl’ ein Grauen
Vor der Sünden
Nachtgründen
Und mag nicht rückwärts schauen.
Kann dich nicht lassen.
In Nächten schaurig,
Traurig
Seh ich auf dich und muß dich fassen.
4. Du bist so milde,
Treu und innig,
Herzminnig,
Lieb Sünderheilandsbilde!
Still mein Verlangen,
Mein Sinn’n und Denken
Zu senken
In deine Lieb, an dir zu hangen. —
II.
Schweifen, o Schweifen!
Schweifen, o Schweifen
Frei durch die Welt so weit
Mit grünen Schleifen
An Hut und Kleid.
Schwing’ ich das Glöcklein,
Klingt es so lieb, so lind.
Es flattern die Löcklein
Um mich im Wind.
Sehn mich die Rehe
So herzig an im Wald,
Wird mir so wehe,
Vergeß es doch bald.
Blühet ein Röslein
Duftig im Haidegras,
Küss’ ich das Röslein
Und wein etwas.
Lustig, wie Wind zieht,
Streift durch das Herz ein Traum,
Fällt eine Lindblüth
Herab vom Baum.
Schweifen o Schweifen
Frei durch die Welt so weit
Mit grünen Schleifen
An Hut und Kleid! —
Leben Sie wohl!