1864, Briefe 404–458
456. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Bonn im Dezember 1864.
Liebe Elisabeth,
Dieses Blatt soll Dir blos noch einige Fingerzeige geben für den Fall, daß Du die Lieder selbst spielen und singen willst. Du kannst daran Deine Studien machen. Das leichteste zum Vortragen ist „das Kind an die erloschene Kerze“, so innig, einfach und harmlos wie möglich zu singen.
Ähnlich das letzte Lied, das, ebenfalls einfach, indessen getragen von großartiger Resignation, Dir gewiß gefallen wird. Vergiß nicht die Stellen „in eine wilde schöne Waldeinsamkeit“ und „und endlich selber mit ihr untergehen“ voll, erhoben und groß zu singen. Das Ständchen liegt sehr tief, die Begleitung ist ein wenig schwerer, die Melodie ist sehr leicht zu singen. Es kommt darauf an, die letzte Zeile jedes Verses hervorzuheben. Das „Ungewitter“ von Chamisso wird Dir gefallen; spiele und singe es ernst, düster und entschlossen, bis auf den mittelsten Vers, der den Contrast nach beiden Seiten hin bildet. „Es winkt und neigt“ erfordert die Fähigkeit, vollgrirfige Akkorde anschwellen zu lassen, und der Stimme alle Nüancen des Tons zu geben. „Verwelkt“ ist ähnlich, aber leichter. Der Schluß ist „erfroren“, sieh einmal, ob Du das nicht bemerkst. Die besten, aber auch schwersten Lieder sind „Gern und Gerner“ und „Unendlich!“ Das erste muß sehr schwungvoll, keck und graziös ausgeführt werden, das andre mit voller Leidenschaft. Nimm den Mittelvers langsamer. Besonders muß die Begleitung vorzüglich eingeübt sein, wenn das Lied gefallen soll.
Das ist es, was ich Dir noch schreiben wollte, liebe Lisbeth! Mögen Dir die Lieder gefallen! Denke dabei gern an
Deinen Bruder.