1889, Briefe 1232–1256
1256. An Jacob Burckhardt in Basel
<Turin,> Am 6 Januar 1889.
Lieber Herr Professor,
zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt. — Doch habe ich mir ein kleines Studenten-Zimmer reservirt, das dem Palazzo Carignano (— in dem ich als Vittorio Emanuele geboren bin) gegenüber liegt und außerdem erlaubt, die prachtvolle Musik unter mir, in der Galleria Subalpina, von seinem Arbeitstisch aus zu hören. Ich zahle 25 fr. mit Bedienung, besorge mir meinen Thee und alle Einkäufe selbst, leide an zerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind. — Da ich verurtheilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten, so habe ich hier eine Schreiberei, die eigentlich, nichts zu wünschen übrig läßt, sehr hübsch und ganz und gar nicht anstrengend. Die Post ist 5 Schritt weit, da stecke ich selber die Briefe hinein, um den großen Feuilletonisten der grande monde abzugeben. Ich stehe natürlich mit dem Figaro in näheren Beziehungen, und damit Sie einen Begriff bekommen, wie harmlos ich sein kann, so hören Sie meine ersten zwei schlechten Witze:
Nehmen Sie den Fall Prado nicht zu schwer. Ich bin Prado, ich bin auch der Vater Prado, ich wage zu sagen, daß ich auch Lesseps bin… Ich wollte meinen Parisern, die ich liebe, einen neuen Begriff geben — den eines anständigen Verbrechers. Ich bin auch Chambige — auch ein anständiger Verbrecher.
Zweiter Witz. Ich grüße die Unsterblichen Monsieur Daudet gehört zu den quarante
Astu.
Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, daß ich mit einigem Mißtrauen erwäge, ob nicht Alle, die in das „Reich Gottes“ kommen, auch aus Gott kommen. In diesem Herbst war ich, so gering gekleidet als möglich, zwei Mal bei meinem Begräbnisse zugegen, zuerst als conte Robilant nein, das ist mein Sohn, insofern ich Carlo Alberto bin, meine Natur unten) aber Antonelli war ich selbst. Lieber Herr Professor, dieses Bauwerk sollten Sie sehn; da ich gänzlich unerfahren in den Dingen bin, welche ich schaffe, so steht Ihnen jede Kritik zu, ich bin dankbar, ohne versprechen zu können, Nutzen zu ziehn. Wir Artisten sind unbelehrbar. — Heute habe ich mir meine Operette — genial-maurisch — angesehn, bei dieser Gelegenheit auch mit Vergnügen constatirt, daß jetzt Moskau sowohl wie Rom grandiose Sachen sind. Sehen Sie, auch für die Landschaft spricht man mir das Talent nicht ab. — Erwägen Sie, wir machen eine schöne schöne Plauderei, Turin ist nicht weit, sehr ernste Berufspflichten fehlen vor der Hand, ein Glas Veltliner würde zu beschaffen sein. Neglige des Anzugs Anstandsbedingung.
In herzlicher Liebe Ihr
Nietzsche
Morgen kommt mein Sohn Umberto mit der lieblichen Margherita, die ich aber auch nur hier in Hemdsärmeln empfange. Der Rest für Frau Cosima… Ariadne… Von Zeit zu Zeit wird gezaubert…
Ich gehe überall hin in meinem Studentenrock, schlage hier und da Jemandem auf die Schulter und sage: siamo contenti? son dio, ho fatto questa caricatura…
Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von den deutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft.
Sie können von diesen Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt. —